Rezensionen
Komik, Groteske und Humor beim Konzert von AUDITIVVOKAL in Hellerau
Wie ist das eigentlich mit dem Lachen? Da hüpft vor uns ein Clown auf und ab, und wir finden es runzeln nur die Stirn. Das Kind neben uns lacht sich derweil kaputt, die Oma schmunzelt leise. Lachen ist ein Urinstinkt des Menschen, viel zu selten lassen wir es in der angestrengten heutigen Zeit heraus. In Verbindung mit Musik und Bühne ist das Lachen differenzierter zu betrachten, der "gespielte Witz" erreicht den Zuhörer über die Inszenierung, durch subtile Wort- und Musikspiele des Komponisten. Das Lachen erhält Zügel, Richtung und Ausdruck.
All diese Facetten konnte man am Sonntag im Konzert des Vokalensembles "AUDITIVVOKAL" im Rahmen des Tonlagen-Festivals erleben. Das Ensemble feierte mit dem Projekt "Enkomikos" gleichzeitig seinen fünften Geburtstag und ist in Dresden auf einem sehr hohen Niveau einzigartig in der Umsetzung neuester Vokalkompositionen in der vom Solo bis zur Achtstimmigkeit variablen Besetzung. "Komik macht oder entdeckt man, Humor hat man", wusste schon Robert Gernhardt - und so konnte jeder Zuhörer die feinen Spielarten musikalischer Groteske für sich entdecken, angefangen beim "lachKaps" von Hans-Joachim Hespos, der bereits vor dem Einlass der Zuhörer für gute Stimmung sorgte.
Jubilar John Cage kam mit Ausschnitten aus den "Song Books" ebenso zu Ehren wie die "Unpolitische Rede" von Karl Valentin. Sprachwitz, Gesang, Solo und Ensemble - dafür hat Ensembleleiter Olaf Katzer eine charismatische Truppe geformt und mit Sylvia Freitag (Regie) gelang eine kammermusikalisch-stimmige Inszenierung der Stücke, die auch die Wurzeln der Musik nicht verleugnete, wie etwa die Barbershop-Atmosphäre von William Brooks "Nellie was a lady". Falk Joosts schöne Palindromkomposition "Die Liebe Tote Beileid" (Uraufführung) war in seiner bildlichen Verstrickung ganz auf den Verlauf der Musik reduziert, während Cathy Berberians Solo "Stripsody" (Maria Meckel, Sopran) den ganzen körperlich-stimmlichen Einsatz der Sängerin verlangt.
Hier wie an einigen anderen Stellen im Konzert hätte man sich eine passendere Lichtregie gewünscht, manchmal verschwomm die doch so wichtige Mimik in einem grünlichen Dämmerlicht. Carola Bauckholts "Nein Allein" war im Nebeneinander zwischen Sprachspiel und konventioneller Komposition der schwierigste Beitrag zur Komikdebatte (Komik darf auch durchaus "seltsam" sein!); mit Purcells deftig umgesetzten Madrigalen wurde dann der Beweis geführt, dass Absurdes nicht nur in unsere Gegenwart zu verorten ist. Im zweiten Teil des Konzertes stand dann als Uraufführung "kaps" von Hans-Joachim Hespos auf dem Programm.
Hier wurde Komik endgültig als genüssliche Gratwanderung exerziert und erhielt durch die klare Kompositionsstruktur und vielerlei szenische Ideen einen choreographischen Charakter: Sänger bewegten, stürzten, schwankten in wechselnden Ensembles auf der Bahn einer Komik, die zwischen improvisierter Freiheit und bestimmtem, explosivem Ausdruck pendelte. Dabei gelang hier fast eine Abstraktion, in der die vielen Gesten und Szenen wie ein Katalog menschlicher und unmenschlicher Äußerungen wirkte - absichtsvoll "kippte" mehrfach die Stimmung und die Untersuchung von Tragik/Komik, das "Alberne" und unfreiwillig Komische lag hier nah beieinander. Das alles wurde vom Ensemble konzentriert mit hervorragender stimmlicher und schauspielerischer Leistung umgesetzt und somit war für einen hervoragenden Abend gesorgt, der viel mehr Theater denn Musik war, aber dies durchweg vergnüglich.
(8.10.12)
Ensemble Contempo Beijing gastierte in Hellerau
Mit einem außergewöhnlichen Gastspiel wurden am Donnerstagabend die "Tonlagen" im Europäischen Zentrum der Künste in Hellerau fortgesetzt. Der Blick über Genre- und Ländergrenzen gehört im Festival immer dazu. Dass China am Freitagabend in den Focus geriet, ist nicht bloß eine Multikulti-Angelegenheit, sondern soll die Bestandsaufnahme einer ganz aktuellen Entwicklung darstellen.
Das Schlaglicht auf chinesische zeitgenössische Musik mit dem Ensemble Contempo Beijing ist allerdings vom Dialog zwischen Deutschland und China bereits geprägt - das Ensemble entstand erst 2011 als Ergebnis einer Zusammenarbeit des Central Conservatory of Music in Peking mit der Siemens Stiftung; die Akademie des Ensemble Modern unterstützte das Projekt, das chinesische Musiker im Ensemblespiel förderte und mit dem Gründungskonzert des neuen Ensembles beendet wurde. Hier taucht natürlich die Frage auf, ob denn China vordem keine zeitgenössische Musik besessen hat. Dies muss insofern verneint werden, da die Definition dieses Begriffs in beiden Kulturkreisen völlig verschieden ist und sich heutige Komponisten sehr stark mit der sehr lebendigen Tradition der chinesischen Musik auseinandersetzen.
Es ist aber ebenso erstrebenswert für viele Komponisten, in Europa zu studieren, um westliches Denken und Handwerk als bereichernde Inspiration in ihre Musik einfließen zu lassen. Im Konzert im Festspielhaus war äußerst spannend zu erleben, wie die Musik ausschließlich chinesischer Komponisten gespielt auf ausschließlich chinesischen Instrumenten wirkt. Nicht nur das Hören wird da auf eine Probe gestellt, man wagt auch kaum, die Werke nach unserem Empfinden zu bewerten, weil man der Kultur damit kaum gerecht wird. Schließlich hat man es bei Zheng und Pipa mit Jahrtausende alten Instrumenten zu tun - allerdings schreibt das Bestreben der Begegnung der musikalischen Kulturen im 20. Jahrhundert auch schon seine eigene Musikgeschichte - durch viele Solisten der sogenannten "Weltmusik" sind uns Pipa und Sheng nicht mehr gar so fern.
Deswegen war es eine gute Entscheidung, einen ganzen Abend lang einmal chinesische Komponisten "sprechen" zu lassen. Deren Ensemble-Werke garantierten Abwechslung, denn sie kennen ihre Instrumente natürlich genau und es war faszinierend festzustellen, welche Formen und Farben da entwickelt wurden, sei es in Tan Duns eher ariosen "Dual Passages" oder den facettenreichen "Primitive Songs" von Tang Jianping, das sich ebenso wie Yang Liqings "Thinking" auf traditionelle Kultur bezieht. Überall war aber festzustellen, dass die Spielweisen der Instrumente stark erweitert wurden, vor allem die Zither Zheng und die Laute Pipa bieten den Komponisten reichlich Potenzial zur Kreativität.
In der Verschmelzung der Instrumente im Ensemble lagen weitere sehr reizvolle Momente, besonders in Jia Guopings "Whispers of a gentle wind" mit leise flimmernden Klängen und Wang Feinans flächigen Strukturen in "The Enchanting Beauties". Bei aller Fremdheit war es außerdem eine Freude festzustellen, mit welcher Homogenität und hochklassigen Virtuosität die Musiker zu Werke gingen, rhythmisch komplexe Überlagerungen wurden ebenso feinfühlig angegangen wie halsbrecherische Soli auf Saiten und Schlagwerk. Das war ein Blick in eine von der Tradition auf natürliche Weise stark geprägte musikalische Gegenwart Chinas, die sich mit erfrischender Kreativität offenbart.
(6.10.12)
Porträt Jani Christou bei den Dresdner "Tonlagen" in Hellerau
Dass zeitgenössische Musik den Horizont der Erfahrung des Tönenden erweitert, uns damit bereichert, wissen die Zuhörer, die offenen Ohres Konzerte mit solcher Musik besuchen. Der Akt der Befriedigung von Neugier, der Weiterentwicklung bereits gefasster Gedanken oder der von Überraschung und Übertölpelung, das alles kann zeitgenössische Musik leisten. Besonders beeinflusst durch die Darmstädter Schule und Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg gab es eine Reihe von Komponisten, die die Musik radikal immer wieder auf den Prüfstand stellten und stetig zu erneuern versuchten.
Karlheinz Stockhausen etwa ist heute aufgrund eines großen, innovativen OEuvres eine der Vaterfiguren dieser Ästhetik, die sich schnell verzweigt und heutzutage im Rund der vielen Komponistennamen manchmal schwer auszumachen ist. Dem griechischen Komponisten Jani Christou war bei den "Tonlagen" in Hellerau ein Porträtkonzert gewidmet - nach dem Konzert zweifelte man, ob das zu beobachtende Vergessen dieses Komponisten wirklich mit seiner Biografie (Christou starb 1970 im Alter von 44 Jahren bei einem Autounfall) oder vielmehr der Radikalität seiner Werke zu tun hat, dem sich selbst in der Neue-Musik-Szene nur wenige Ensembles widmen wollen oder können.
Denn dazu gehört eine Menge Mut, und dem Dresdner Ensemble Courage ist die Begegnung und die Umsetzung der Werke von Jani Christou in einer Weise gelungen, dass man nur den Hut ziehen kann vor solcher Aufrichtigkeit im musikalischen Tun. Denn Christou ist radikal in einer Weise, die Interpret wie Zuhörer direkt und unmittelbar berührt, verletzt, reinigt, erschüttert. Und das kann alles zugleich passieren. Auf Basis breiter philosophischer Erfahrung, im Kontext der politischen Entwicklungen der 60er-Jahre entstehen Werke, die über den Notentext hinaus in körperliche Erfahrungen von Improvisation und Entäußerung münden. In "Anaparastasis I" ist die Baritonpartie (mühelos Grenzen sprengend: Cornelius Uhle) diesen Wandlungen ebenso unterworfen wie Orchesterpart und Dirigententätigkeit, dies setzt sich in "Praxis for 12" für 11 Streicher und Dirigent in einer fast spielerisch-klaren Variante fort und erreicht in "Anaparastasis III" den Zustand des Exzesses (mit großer Spannung impulsgebend hier die Tänzerin Katja Erfurth als Pianist-Performerin).
Dass am Ende die Bühne ein Schlachtfeld ist, die Interpreten ebenso "durch" sind wie manche Zuhörer, gehört unbedingt zur Konfrontation mit Christou dazu. Doch keinesfalls ist Christous Musik bloßer Krach, dafür sind viele Passagen äußerst sensibel angelegt, bricht sich die Gewalt eben als natürlich Ur-Äußerung Bahn, die Meta-Ebenen freilegt und sich von heutiger negativer Konnotation befreit. So verrückt es klingt: wenn man den klischeehaften Satz "Trommel dich frei" ernst nimmt und sich von Christou unter Einsatz des vollen Bewusstseins und der körperlich verfügbaren Kraft an die Hand nehmen läßt, entsteht etwas wirklich Neues, vielleicht Unbeschreibbares. Gut, dass Christou zwei Werke zur Seite gestellt wurden, die ein Seitenfenster öffneten: Sergej Newskis "J'etais d'accord", die quasi die Christou'sche Musizierhaltung wie in einem übersetzten musikalischen Gestus unter ein Brennglas nimmt (und gleich der Ort der Kunstausübung selbst - ein LEGO-Modell des Festspielhauses mit dem Hammer zerstört wird) und Francesco Filideis "Funerali dell'Anarchico Serantini" für 6 Spieler, deren Anti-Haltung der Illustration einer Katastrophe ebenfalls Christou in einer konzentrierten Form kommentiert. Titus Engel und seinem Ensemble Courage ist zu danken für einen Abend, der im Sinne von Christou eine Menge Seele schuf, und wo, wenn nicht in diesem Zusammenhang, ist ein markerschütternder Schrei glaubhaft und ernst.
(5.10.12)
Sieger des 5. Internationalen Anton-Rubinstein-Wettbewerbes wurden gekürt
Geduld und Sitzfleisch musste mitbringen, wer zum Finalausscheid des 5. Internationalen Klavierwettbewerbes Anton G. Rubinstein in der Dresdner Musikhochschule erschienen war. Am Feiertag wetteiferten dort drei Pianisten um die Preise, sie hatten zuvor unter 130 Teilnehmern aus 22 Ländern die international ausgetragenen Vorausscheide und das Seminfinale, das am vergangenen Wochenende in Dresden stattfand, glücklich für sich entschieden.
Nach vier Stunden Konzertdauer am Feiertag konnten sich im vom Forum Tiberius veranstalteten Wettbewerb alle drei Teilnehmer über gestiftete Preise in Gesamthöhe von 16.000€ freuen. Eine mit 17 Mitgliedern außergewöhnlich umfangreich besetzte internationale Jury tagte lange und Jurychef Prof. Arkadi Zenzipér wies auf das hohe Niveau des gesamten Wettbewerbs hin. Ein Wermutstropfen bleibt die schwache Vertretung durch deutsche Teilnehmer - die zwei einzigen schieden vor dem Semifinale aus; ob dies mit der mangelnden Wertschätzung des Wettbewerbes oder unzureichender Qualität der Ausbildung zu tun hat, wäre zu fragen.
Drei Pianisten aus China, Russland und Tschechien verblieb die Aufgabe, nicht nur die Jury, sondern auch die Zuhörer im bis auf den letzten Platz gefüllten Konzertsaal der Hochschule mit spannenden Interpretationen dreier romantischer Klavierkonzerte zu erfreuen. Dazu zeigte sich die Hochschule für Musik nicht nur als engagierter Veranstaltungspartner - das Hochschulsinfonieorchester unter Leitung von Ekkehard Klemm meisterte auch noch glänzend die schwierige Aufgabe, über neun Tage hinweg die Finali zu begleiten, was angesichts der stetig wechselnden Literatur und der vielfältigen musikalischen Persönlichkeiten am Klavier eine beachtliche Leistung darstellt.
Die Tschechin Veronika Böhmová (geb. 1985) überzeugte im 1. Klavierkonzert von Franz Liszt mit feiner Anschlagskultur und überzeugendem emotionalen Zug zum Finale hin, für diese Darbietung erhielt sie den 2. Preis. Andrey Dubov (geb. 1987) musizierte das 1. Klavierkonzert von Peter Tschaikowsky mit solider Perfektion und überraschte im 3. Satz mit einer durchaus eigenwillig-flotten Tempo-Auffassung. Seine Belohnung war der 3. Preis. Dass im Vorfeld des Wettbewerbs mit der "Suche nach dem neuen Lang Lang" geworben wurde, mag nicht jeden Fachmann als Slogan begeistern, doch den Klavierwettbewerb gewann - ein Chinese. Der in Shanghai gebürtige Hao Zhu (geb. 1986) holte sich neben dem 1. Preis auch den Publikumspreis für seine Interpretation des 2. Klavierkonzertes von Sergej Rachmaninov ab, nuancenreich und am großen Yamaha-Flügel technisch jederzeit souverän, aber nie den Bogen überspannend konnte er die Zuhörer begeistern.
Die Sonderpreise für die beste Interpretation eines Rubinstein-Werkes und die der zeitgenössischen "Sonata", eines Auftragswerkes von Sara Zalcikova wurden jeweils geteilt und gingen an Veronika Böhmova, Jeong Yoon Lee, Vera Zyryanova und Ji-Hwan Hong. Am Ende der Veranstaltung stand Dank an die Hochschule, an die Gasteltern in Dresden, die die internationalen Künstler beherbergten und großer Applaus des Publikums. Den drei Finalisten ist nun Erholung und ein weiterer guter Werdegang zu wünschen - keine leichte Aufgabe in der heutigen Zeit, doch dass die Wettbewerbsveranstalter deutlich betonten, großen Wert auf die künstlerische Persönlichkeit zu legen, erwies sich bereits angesichts der spannenden Interpretationen im Finalkonzert als richtig und wegweisend.
(3.10.12)
Festivalprolog der Tonlagen mit einer John-Cage-Schüler-Performance
Mit einem wunderbar kreativen und lebendigen Prolog begann am Montagabend das Tonlagen-Festival vor der offiziellen Eröffnung. Warum musste es eigentlich ein Prolog sein? Die Veranstaltung führte auf ideale Weise in das Festivalthema "John Cage" ein, führte Ungläubige im Handstreich zur Kunst und verband soziale, zeitkritische und mystische Elemente auf verblüffende Weise. Das Werk von John Cage, dem das Festival zum 100. Geburtstag mit zahlreichen Aufführungen gewidmet ist, ist ein Kosmos, der zwar in Vielschichtigkeit schillert, aber nicht in Komplexität erschlägt.
Es sind überhaupt wenige zeitgenössische Komponisten denkbar, bei denen ohne Hintergrundwissen und gehörigem Anspruch solch ein direkter Zugang möglich ist. Cage überläßt den Zuhörern die Tiefe des Eindringens, auch die Interpreten werden behutsam an die Hand genommen: Von völlig offen gestalteten, zuweilen kryptischen konzeptuellen Werken bis hin zu akribisch ausnotierten Instrumentalkompositionen reicht die Vielfalt. Und doch verwehrt sich das Werk von Cage einer Beliebigkeit in der Wahrnehmung wie in der Ausführung. "Music is everywhere" kommt selbst in der Erzeugung von Stille nicht ohne Ursache und Wirkung aus.
Somit war eigentlich schon vor dem Besuch des Festivalprologes klar, dass ein spielerisch-kreativer, immer bewusster Umgang mit Cage durch Schüler des Franziskaneums Meißen, des Landesgymnasiums für Musik Dresden und des Vitzthum Gymnasiums Dresden nur zum Erfolg führen würde, und dies bestätigte sich. Aufgehoben war die starre Konzertsituation von vornherein, das Publikum teilte sich in mehrere Gruppen auf und durchwanderte sieben musikalische Ereignisse. Dabei waren auch die Räume intelligent gestaltet, sei es der Sesselfriedhof in der "Radio Music" oder das kreisförmige Matratzenlager in "Sculptures Musicales", letzteres übrigens eine Station, an der man - durch fließende und im Wortsinn flüssige Klänge in Entspannung begriffen - die Regel der festgelegten Dauer des musikalischen Ereignisses doch gerne durchbrochen hätte. Faszinierend war, wie offen, spielerisch und gleichzeitig hochkonzentriert die Schüler überall zu Werke gingen.
Das berühmte Stück "4'33''" im Schnellrestaurant und auf einer Straßenbaustelle aufgeführt war da ebenso frappierend (aber über Video dann doch in eine weitere Interpretation "übersetzt") wie die "Variations IV" mit genialem Klebeband-Surroundsound, nachdem dort schon ein Kaktus, ein Fahrrad und etliche Küchenutensilien ihr musikalisches Eigenleben entfalteten. Cage beförderte stets die Entfaltung des Interpreten in neue Richtungen, so war die Performance von Schüler-Eigenkompositionen, die durch Cage inspiriert wurden, ein interessantes Experiment, Formen und Klangverläufe selbst zu bestimmen.
Die Schallplatteninstallation "33 1/3" brachte nicht nur erschreckende Dachbodenfunde der Hellerau-Mitarbeiter zu Tage, sondern etliche DJ-Talente im Publikum hervor und genau in der Mitte des Konzertes versammelte man sich im Foyer um das präparierte Klavier von Susanne Frenzel-Wohlgemuth zu den "Sonatas and Interludes" - wiederum ein spannendes Schlaglicht auf eine ganze Werkreihe von John Cage. Spiel, Ernst, Zufall, Humor, Stille und Geräusch, es war alles vertreten an diesem vergnüglichen Abend, der stimmig war und bei dem Cage sicher milde und zufrieden lächelnd seinen Geburtstag sehr genossen hätte.
(2.10.12)
Erste "Blaue Stunde" der Dresdner Philharmonie im Hygiene-Museum
Mit der 1. Museums-Matinée und der 1. Blauen Stunde startete die Dresdner Philharmonie am Sonntag im Hygiene-Museum ein neues Doppelformat, und gleichzeitig ging mit der "Blauen Stunde" ein philharmonisches Musikwochenende zu Ende, denn bereits am Sonnabend gastierte das Orchester in der Frauenkirche. Mit dem Motto des Konzertes ist keinesfalls nur eine lässig-ungezwungene Sonntagnachmittagstunde der Freizeit und Plauderei beschrieben - die blaue Stunde ist auch ein Lichtphänomen kurz nach Sonnenuntergang und vor Sonnenaufgang. Der Farbe Blau wird zudem eine beruhigende Wirkung zugeschrieben.
Insofern mögen Synästheten im bordeauxfarbenen Saal des Hygienemuseums einige Aufgaben gestellt bekommen haben. Jedenfalls gefiel das kompakte Format von einer Stunde Musik Marke "für Kenner und Liebhaber" außerordentlich und lockte eine große Zahl Zuhörer zum Konzert. Mit Beethoven, Mozart und Prokofjew wurde der bekannte Mix aus Ouvertüre, Konzert und Sinfonie beibehalten, der Anspruch jedoch war am Nachmittag hoch und wurde unter Beteiligung junger Künstler umgesetzt. Da war zunächst der 27jährige finnische Gastdirigent Santtu-Matias Rouvali, bisher vorrangig im skandinavischen Raum aktiv, den Namen wird man sich merken müssen.
Mit Temperament und Umsicht gestaltete er zu Beginn die erste "Leonoren-Ouvertüre" von Ludwig van Beethoven, die seltener aufgeführt wird, aber ihren Reiz aus ruhiger, spannungsvoller Themenentfaltung bezieht. Rouvali fand den richtigen Atem für das Stück und beließ der Ouvertüre ihren zurückhaltenden, nachdenklichen Charakter. Im Mittelpunkt des Konzertes stand Wolfgang Amadeus Mozarts 5. Violinkonzert A-Dur, ein Werk, das Virtuosität oft den thematischen Einfällen unterordnet. Insofern kam dem Solisten Mikhail Simonyan die Aufgabe zu, dem Konzert seinen speziellen Charakter zu verleihen. Das gelang weitestgehend, vor allem in den schön ausbalancierten Solokadenzen. Minimal hätte die rhythmische Kontur des Kopfsatzes differenzierter sein können, fehlte auch dem 3. Satz eine Spur die Abphrasierung und der atmende Neubeginn. Für den großen Applaus bedankte sich Simonyan mit einer Melodie aus seiner Heimat Armenien, das "Armenian Prayer" wurde bordunartig stimmungsvoll von philharmonischen Celli unterstützt.
Vor einem gewichtigen sinfonischen Beitrag hätte es nun einer Pause bedurft, doch Sergej Prokofjews 1. Sinfonie, die "Symphonie Classique" ist ein knapp gefasstes Kehraus-Stück, das die Zuhörer mit gehörig Ohrwurm-Material entläßt. Rouvali beförderte eine frische, geschlossene und vor allem nicht überzogene Interpretation, die die "Blaue Stunde" perfekt abrundete. In zukünftigen Konzerten wird das Repertoire insbesondere in für den Raum sehr gut geeigneten kleineren Orchesterbesetzungen erweitert - bereits am 10. Oktober kann man dort mit den Philharmonikern den ersten "Dresdner Abend" mit Werken von Othmar Schoeck und Paul Hindemith erleben.
(1.10.12)
Dresdner Philharmonie und der Armenische Kammerchor musizierten in der Frauenkirche
Mutig erscheint der Schritt der Dresdner Philharmonie, einen außergewöhnlichen Programmschwerpunkt gleich zu Beginn einer von Umbrüchen geprägten Spielzeit umzusetzen. Der Blick nach Armenien schafft zumeist fremdartige, intensive Musikerlebnisse, wenn man sich nicht gerade ausschließlich mit der populären Musik von Aram Chatschaturjan beschäftigt. Ursprünglich war für das Konzert am Sonnabend in der Frauenkirche ein rein amerikanisches Programm geplant. Wohl durch das Zustandekommen eines Gastspiels des Armenischen Kammerchores musste umdisponiert werden, dadurch entstand aber eine nur als verunglückt zu bezeichnende Dramaturgie: zwei Orchesterwerke des amerikanischen Komponisten Samuel Barber wurden im Programm belassen und mit Chorwerken von Schnittke und Komitas in eine Nachbarschaft gesetzt, die nicht nur nicht passen wollte, sondern auch den höchst spannenden Einblicken in die armenische und russische Klangwelt einen im Kontext nur aufgesetzt wirkenden Neoklassizismus und suggestive Illustrationsmusik entgegensetzte.
Doch damit nicht genug - nachdem der Chor unter Leitung von Robert Mlkeyan das erste armenische Stück stimmungsvoll von der Orgelempore sang, wurde die gerade entstandene Atmosphäre jäh zerstört, da sich nach unnötig provozierter Klatscherei das "Adagio" für Streicher von Samuel Barber anschloss, ein Werk, das aufgrund seiner emotionalen Unausweichlichkeit ohnehin nur bei passenden Anlässen ertragbar ist. Vermutlich wollte man dem Chor nicht allein das Feld überlassen, lediglich ein einziges kurzes Werk wurde gemeinsam musiziert. So litt vor allem die erste Konzerthälfte unter den unvereinbaren Musikwelten. Bemerkt werden muss ebenfalls, dass in diesem Armenien-Schwerpunkt die stärkste kompositorische Stimme dieses Landes - der Komponist Awet Terterjan - komplett fehlt, wodurch im vermittelten musikalischen Bild des Landes eine Schieflage entsteht. Terterjan wäre eine sinnfällige Ergänzung des Programms gewesen, in dem das Barber-Violinkonzert am Ende des viel zu langen ersten Teils als bloßer Fremdkörper stand.
Die Interpretation mit dem Geiger Mikhail Simonyan und Sergey Smbatyan am Dirigentenpult war nicht durchweg befriedigend. Zu viele Unsicherheiten im Orchesterpart konnten Simonyans engagiertes Spiel nicht aufwiegen; der dritte Satz war in seiner vorbeifliegenden Hektik wiederum ein Beweis, dass man bestimmte Stücke in der Frauenkirche aus dem Altarraum heraus nur schwerlich überzeugend präsentieren kann. Ganze fünf Minuten Pause gönnte man dem Publikum in dem über zwei Stunden langen Konzert, versöhnend wirkte jedoch die Klangkultur, mit der der Armenische Kammerchor vor allem im zweiten Teil aufwartete. Zu exaltiert und dynamisch trotz der Fähigkeiten der Sänger als grenzwertig zu bezeichnen war noch im ersten Teil die Interpretation der "Drei Gesänge" von Alfred Schnittke - der hinzugefügte Bombast ist sicher nicht vom Komponisten intendiert.
Tigran Mansurians drei Chorwerke auf Texte von Avetik Sahakyan waren aber ebenso eine spannende Entdeckung wie die rhythmisch und melodisch faszinierenden Gesänge von Komitas Vardapet, dem großen armenischen Musikforscher und Komponisten. Strömend dicht und obertonreich musizierte der Armenische Kammerchor diese Musik, die keine Vergleiche benötigt, sondern kulturelle Identität ausstrahlt. Etwas einsam stand Eduard Hayrapetyans "With Ecstasy..." für Chor und Streichorchester am Schluss des Programmes, war aber schlüssig ausgewählt als Beispiel einer auf den kulturellen Wurzeln des Landes fußenden, zeitgenössischen armenischen Musik, wenngleich auch hier im Dickicht polytonaler Flächen und ohne Kenntnis des Textes der Zugang für den Hörer nur bruchstückhaft gelang. Mit Konzentration und Zugeständnissen wäre hier vielleicht ein überzeugendes Konzert gelungen, insgesamt überwog aber leider der Eindruck, dass im Vorfeld verschiedene Planungen nicht zu einem befriedigenden Ergebnis zusammengeführt werden konnten - es ist schade, dass so das Wichtigste, die Musik selbst, ins Hintertreffen geriet.
(30.9.12)
Staatskapelle Dresden und Christian Thielemann beenden Antrittstournee
Die letzten Töne des Antrittkonzertes von Christian Thielemann als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle liegen noch gut im Ohr. Nicht nur in Dresden wurde der Auftakt zur neuen Saison gefeiert, Thielemann und das Orchester begaben sich direkt im Anschluss des letzten Konzertes auf eine Tournee durch vier europäische Städte. Das Programm war minimal verändert und blieb an allen Stationen gleich: mit Werken von Richard Wagner und Anton Bruckner war garantiert, dass sich die Staatskapelle auch in den ausverkauften Konzertsälen an Rhein, Main, Donau und Isar von ihrer besten Seite zeigen durfte - Thielemanns vor allem die Klangausformung betonende Interpretation der 7. Sinfonie von Anton Bruckner erhielt ja bereits in Dresden großen Beifall.
Dieser steigerte sich auf der Tournee zu wahren Jubelstürmen. Bereits in der Alten Oper Frankfurt und in der Kölner Philharmonie lief das Orchester zur Hochform auf, weiterhin stand ein Besuch beim Musik-Festival im österreichischen Grafenegg und ein Konzert an Thielemanns ehemaliger Wirkungsstätte in München auf dem Programm. Dass das Orchester auch unter Open-Air-Bedingungen beste Kunst zu entfalten vermag, zeigte das Gastspiel in Grafenegg vor den Toren von Wien. Das Festival wird vom Pianisten Rudolf Buchbinder - in Dresden 2010/2011 durch seinen Beethoven-Zyklus bestens in Erinnerung - künstlerisch geleitet und liebevoll betreut. In Grafenegg geben sich neben dem residierenden Tonkünstler-Orchester die großen Orchester der Welt die Klinke in die Hand - für Thielemann war es eine Premiere, die Staatskapelle gastierte bereits 2010 dort. Neben der Funktion als vorzügliche "Sommerfrische" für Picknick-Ausflüge im Schlosspark verfügt Grafenegg über den "Wolkenturm", eine architektonisch ebenso faszinierende wie akustisch sehr befriedigende Open-Air-Konzertstätte - freilich nur bei gutem Wetter nutzbar, aber das hatten die Dresdner gleich mitgebracht.
Bei herrlicher Atmosphäre in der eintretenden Dämmerung zeichnete der neue Chefdirigent der Staatskapelle Richard Wagners "Vorspiel und Isoldes Liebestod" aus "Tristan und Isolde" mit akribischem Sinn für das Detail, immer aber den strömenden Klang im Auge behaltend. Dies zeichnete ebenso die Bruckner-Interpretation aus, für die die Dresdner in Österreich enormen Applaus erhielten. Das einen Tag später folgende Gastspiel am Gasteig in München war von besonderen Emotionen geprägt, und zwar auch, weil es das letzte Konzert war. Für das Orchester stellte die Serie von sieben Aufführungen eine dankbare Gelegenheit dar, an der Interpretation zu feilen und zum Ende noch einmal alles zu geben.
Dass das Konzert in München seit Wochen ausverkauft war, ist kein Wunder: groß ist die Gemeinde der Anhänger des ehemaligen Chefs der Münchner Philharmoniker und die Begeisterung für Christian Thielemann ist ungebrochen - schon der Begrüßungsapplaus überstieg das normale Maß deutlich. An Christian Thielemann gingen diese Emotionen nicht spurlos vorbei. Er schenkte den Münchnern mit der Staatskapelle eine spannungsgeladene und von vor allem samtig schillernden Farben geprägte Bruckner-Interpretation, zauberte auswendig vor allem in den dynamischen Registern mit vielen Nuancen und auch spontaner, immer aber organisch wirkender Gestaltung. Nach diesem in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Musikerlebnis brach ein wahrer Beifallssturm los, in dem sowohl die herzliche Gratulation als auch der Respekt vor der Leistung des Orchesters zu spüren war. Thielemann und sein Orchester machten bei dieser ersten gemeinsamen Tournee in den vier Musikzentren eine blendende Figur, und die Musiker waren während der Reise, das spürte man im Miteinander, stets offen, erwartungsfreudig und gut aufgelegt.
Damit ihn die Münchner nicht zu gar vermissen, stellte der Dirigent dort am Montag sein am 14. September im Handel erscheinendes Buch "Mein Leben mit Wagner" vor. Es ist Thielemanns persönliche Widmung an den Jubilar des kommenden Jahres und stellt vor allem die musikalische Praxis in Bayreuth aus der Dirigentensicht vor; eine
Audiobuch-Fassung (Lesung: Ulrich Tukur) mit Musikbeispielen erscheint Anfang Oktober.
(10.9.12)
Christian Thielemanns Antrittskonzert als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden
Selten wohl wurde ein Ereignis von vielen Seiten so herbeigesehnt und so gründlich vorbereitet wie der Beginn der Konzertsaison 2012/2013 der Sächsischen Staatskapelle Dresden mit Christian Thielemann als neuem Chefdirigenten. Fast erleichtert ist man nun, dass die Spannung des "Noch nicht" sich mit dem Antrittskonzert am Sonnabend in ein "Jetzt aber!" löste. Dafür bedurfte es einer Inauguration der besonderen Art - das Antrittskonzert atmete eine feierliche Atmosphäre, für die Prise Mystik sorgte zudem die Auswahl der Werke, die Thielemanns und Dresdens "Götter" Wagner und Strauss zwar offiziell vermied, aber dennoch waren beide in intelligenter Weise anwesend: Orchesterlieder von Hugo Wolf waren ausgewählt worden, einem Komponisten also, dem zwischen Wagner, Brahms und Mahler stehend ein nur kurzes schöpferisches Leben beschieden war, der aber in seinem Liedschaffen Schubert und Schumann weiterdachte und Strauss und Schönberg vorwegnahm.
In der überwiegend im intimen Klanggewand erscheinenden Auswahl von fünf Liedern nach Texten von Eduard Mörike und Johann Wolfgang von Goethe zeigte Thielemann gemeinsam mit der amerikanischen Sopranistin Renée Fleming seine Klasse im Ausgestalten scheinbar einfachster Sinnlichkeit. Wie bereits im ersten Lied "Verborgenheit" durch Ruhe und Geborgenheit innerhalb der melodischen Phrase eine große Spannung entstand war hörenswert. Dies steigerte Fleming mit überaus warmer und strömender Stimme bis hin zur dramatisch bewegten "Mignon" - das augenzwinkernde "Er ist's" eingeschlossen, bei dem der Frühlings-Tusch der Staatskapelle zur überschwänglichen Begrüßung für den Chef am Pult geriet. Weniger als Encore denn als tief bewegende Geste - die Staatskapelle und Thielemann widmeten das Konzert dem Gedenken an die verstorbene Intendantin Ulrike Hessler - erschien das Orchesterlied "Befreit", Opus 39/4 von Richard Strauss, das den ersten Teil des Konzertes beschloss.
Dass sich Thielemann nach der Pause für ein sinfonisches Werk von Anton Bruckner entschied, war nicht nur nach den Liedern folgerichtig, sondern setzt auch eine schon jetzt zu schreibende Erfolgsgeschichte fort: Mit Bruckner sprang Thielemann 2009 "auf Brautschau" bei der Kapelle ein und begeisterte damit in diesem Frühjahr erneut in Sonderkonzerten. Die großformatigen Werke sind höchst anspruchsvoll, vermögen dabei aber auch gerade die Interpretationsstärke eines Dirigenten bloßzulegen: die Bandbreite zwischen rasanter Lärmigkeit und auseinanderfallender Entschleunigung kann hier groß sein. Entscheidend ist jedoch die spezifische Ausformung des Klanges - Bruckners Sinfonien sind also dankbare Partituren für die Staatskapelle. Ausgerechnet in der lichteren, nicht immer klar verständlichen 7. Sinfonie E-Dur ist Thielemanns bei Wolf so kongenial nachzuvollziehende Huldigung der Singstimme als Konzept ebenso stimmig; der Dirigent wird zum Modulator der unzähligen strömenden Themen, der kleinen Nebenfiguren und sanft dahinströmenden Passagen der Hörner und Tuben, die gerade im Finale für sensationell schöne Klangerlebnisse sorgten.
Viel verständnisvoller Augenkontakt hatte in den ersten beiden Sätzen eine durchaus freie Lesart einiger Themendurchläufe zur Folge. "Rubato" war das Zauberwort, das aber innerhalb natürlicher, von allen gemeinsam bestimmten Grenzen floss. Thielemann nahm das Adagio dann selbst in seinen "Moderato"-Teilen enorm langsam und geriet damit einige Male an eine Grenze - der Abgesang nach dem befreienden Höhepunkt bis zum weich verklingenden Schlussakkord hingegen war ein echtes Juwel. Im Scherzo gönnte sich Thielemann fast eine böhmische Leichtigkeit, während er die Themen des Finalsatzes klug aus der Rhythmik heraus mit unterschiedlichen Tempoflüssen gestaltete und wiederum im Tutti-Schluss trotz fortissimo ohne plautzende Gewalt auskam - dies beherrscht das Orchester exzellent. Nach dieser von Hochspannung auf allen Plätzen (auch im Publikum) bestimmten Interpretation war eine kurze Phase des Nachsinnens angebracht; Thielemann gewährte sie sich selbst und dem Auditorium, bevor sich tosender Jubel Bahn brach. Die stehenden Ovationen waren nicht nur Dank für ein herausragendes Konzert, sie waren gleichzeitig die lautstarke Bestätigung, dass Christian Thielemann in Dresden längst angekommen und willkommen ist und letztlich drücken sie auch die Hoffnung und freudige Erwartung auf viele weitere gemeinsame musikalische Erlebnisse aus.
[3.9.12]
Jörg Widmann als Komponist und Interpret beim Moritzburg Festival
Eine abwechslungsreiche Darbietung konnten die Zuhörer am Mittwochabend im Schloss Moritzburg erleben. Neben den "Klassikern" der Kammermusik gönnt sich das Moritzburg Festival jedes Jahr einen Composer-in-Residence. Dieses Jahr sind es gleich mit Sofia Gubaidulina, Olli Mustonen und Jörg Widmann gleich drei. Allerdings sieht eine echte Residenz anders aus und wäre sicher auch mit Uraufführungen profilierter, dennoch ist die Werkauswahl sorgfältig und bildet auch immer spannende Korrespondenzen zur Musiktradition.
Jörg Widmann konnte aus beruflichen Gründen - er arbeitet derzeit an einem großen Opernwerk lediglich einen Tag dem Festival beiwohnen; dies erfuhr das Publikum im lockeren Gespräch der Komponistenbegegnung, die vor dem eigentlichen Konzert stattfand. Widmann war auch nicht zum ersten Mal in Moritzburg, kehrt aber gern zurück und ist sowohl als erstklassiger Klarinettist und Komponist eine Bereicherung für die Konzerte. Da war es keine große Anstrengung, schlusszufolgern, welchem gemeinsamen Sternzeichen Olli Mustonen (ebenfalls Komponist und Interpret) und Widmann angehören: zwei Seelen wohnen in der Brust des Zwillings und diese leben sie genüßlich aus, das zeigte Widmann auch in Einblicken in seine Kompositionswerkstatt.
Nachdem Widmann im Porträt seine eigene, sowohl poetische als auch dramatisch aufwallende Fantasie für Klarinette vorgestellt hatte, widmete er sich im Konzert zunächst den bekannten "Fantasiestücken", Opus 73 von Robert Schumann. Widmann und Mustonen verstanden sich gemäß der schon im Gespräch gemachten Ankündigung auch durchaus prächtig, allerdings hatte Mustonen einige Probleme, die stetig rollenden Wellen des Stückes so klar und weich zu gestalten, wie Widmann es souverän auf der Klarinette beherrschte, insofern befriedigte diese Interpretation in dieser etwas eckig hervorgebrachten Romantik nicht.
Rodion Shchedrins "Three Shepherds" standen etwas einsam in der Mitte des ersten Teils, und die Qualität der Komposition vermochte trotz netter Raumwirkung mit zu- und auseinanderstrebenden Musikern nicht zu überzeugen. Sabine Kittel (Flöte), Sole Mustonen (Oboe) und Harri Mäki (Klarinette) zeigten sich jedoch sehr engagiert für das Werk, das in der Langatmigkeit mit kaum entfaltetem Material gewöhnungsbedürftig schien. Widmanns eigene Komposition "Fieberphantasie" für Klavier, Streichquartett und Klarinette war da, obgleich in radikal harter, moderner Klangsprache gesetzt, viel zugänglicher, da sie an keiner Stelle emotionalen Zugang und impulsiven Fortgang verneinte. Das zeichneten auch die Interpreten - nun wieder mit Widmann selbst an den Klarinetten - in faszinierender, mit äußerstem Willen zupackenden Weise nach. Schumann erschien hier nur noch als kurzer Schatten, in rhythmischem Bohren eingepfercht.
Nach über einer Stunde Parforceritt im ersten Teil hatten sich die Zuhörer im zweiten Teil "ihren" Dvořák verdient: Das Streichquintett G-Dur führte Arnaud Sussmann mit feiner Gestaltung als Primarius an; Kai Vogler, Lise Berthaud, Jan Vogler und Janne Saksala bildeten das Ensemble, das mit guter dynamischer Balancierung und spielerischem "Zuwurf" der Themen untereinander aufwartete. Und für solcherlei Höchstspannung in einem Konzert dankte das Publikum derart dankbar, dass zu vorgerückter Stunde die Zugabe natürlich unausweichlich war.