Rezensionen

Freitag, 22. Juni 2007

Bach mit dem Sauerstoff des 21. Jahrhunderts

Sir John Eliot Gardiner musiziert mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden

Die Bandbreite seiner Aufführungen und Einspielungen ist enorm, in der Alten Musik gilt er als Schlüsselfigur und hat viele Werke einem breiten Publikum (wieder) zugänglich gemacht. Mit dem von ihm gegründeten und geleiteten Monteverdi Choir gastiert Sir John Eliot Gardiner am Sonnabend in der Frauenkirche und gestaltet mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden ein besonders auf die Dresdner Musikgeschichte zugeschnittenes Programm. Alexander Keuk sprach mit ihm über Bach, Zelenka und musikalische Interpretation.

Sir John Eliot Gardiner, Sie gastierten bereits mehrfach in Dresden...
Gardiner: Ja, ich war bereits 1983 hier bei der Staatskapelle, jetzt ist es ist mein erstes Konzert in der Frauenkirche, darauf freue ich mich sehr - wir musizieren Bach, die Urfassung der H-Moll-Messe, die für Dresden geschrieben wurde. Dazu das Miserere c-Moll von Zelenka und die Harmonie-Messe von Haydn, seine wohl schönste Messe.
Was macht die besondere Schönheit dieses letzten vollendeten Werkes von Joseph Haydn aus?
Gardiner: Es liegt besonders an der Präsenz der "Harmonie", also den Bläsern. Die "Nelsonmesse" etwa hat nur Trompete und Pauken und keine Holzbläser - hier ist die ganze Harmonie involviert. Außerdem ist das Benedictus eine Überraschung. Es ist ein "Molto Allegro", normalerweise ist ein Benedictus ein kontemplatives Stück, hier ist es das Gegenteil, schnell und fast wie ein furioso-Finale einer Mozart-Oper komponiert.
Haydn klagte in seinen letzten Jahren oft, er sei erschöpft, aber die Wahrheit ist, wir haben mit den Messen den Gipfel der opernhaften geistlichen Musik auf der Grenze zwischen Wiener Klassik und Romantik.
Zurück zu Johann Sebastian Bach - der Leipziger Thomaskantor hätte gerne die Hofkapellmeisterstelle in Dresden erhalten, aus welchem Grund?
Gardiner: Dresden war die Stadt von August dem Starken, und das verändert natürlich alles. Leipzig war eine Messestadt mit Universität, kommerziell, intellektuell, aber im Vergleich zu Dresden war es durchaus auch provinziell.Alles passierte hier in Dresden: der Hof, die Hofkapelle mit einer fantastischen Ausstrahlung, sie waren versiert in der französischen und italienischen Richtung, fabelhafte Musiker. Für Bach waren in Leipzig die Arbeitsbedingungen anders, in Dresden war das Ansehen größer, die Musiker waren besser bezahlt. Man musste die Funktionen nicht verdoppeln, in Leipzig musste ein Geiger ja notfalls auch singen oder Trompete blasen. Bach musste immer improvisieren und Schüler dazuholen um sein komplettes Ensemble zusammenzubekommen. Er wollte Kapellmeister sein und war im Grunde Kantor. Es gab dann die Möglichkeit in Dresden einen neuen Kapellmeister zu installieren und Bach schrieb die Messe mit einer Widmung an August. Es war eine Privatwerbung, und seine Bewerbung sagte ganz klar: "Ich kann auch katholische Musik schreiben, ich weiß genau, was in Dresden passiert und was Lotti, Caldara, Zelenka schufen. Ich bin der Mann der Situation". Er kannte Dresden sehr genau, war auch 1717 schon in Dresden bei dem Wettbewerb des berühmten Cembalisten Louis Marchand. 1733 bekam Wilhelm Friedemann ja den Job in der Sophienkirche und Johann Sebastian hat alles gemacht für ihn, sogar "in die Tasche komponiert". Doch er bekam die Stelle nicht, sondern nur drei Jahre später einen honorigen Titel, und dann kam ja Hasse als Opernchef, und Bach ist in Leipzig geblieben. Er war dort weiterhin kreativ und schöpferisch, aber sicher auch ein bißchen eifersüchtig, gar nicht auf die künstlerischen Entwicklungen in Dresden, aber sicherlich auf die Konditionen.
Welche Rolle spielte Zelenka?
Gardiner: Zelenka war zu der Zeit schon in Dresden, er war Kontrabassist hier und hat sehr viel Kirchenmusik komponiert. Es gibt viele Parallelen zwischen Bach und Zelenka, die beiden haben sich auch beeinflusst. Bach war ja auch nicht nur mit Zelenka befreundet sondern auch mit Hasse und seiner Frau, der Sängerin Faustina Bordoni.
Da gab es keinen Neid, oder gar Konkurrenz?
Gardiner: Nein. Ich finde, die Kirchenmusik von Hasse ist im Vergleich zu Bach etwas formularisch. Bach schuf in den Kantaten Meisterwerk nach Meisterwerk, jeden Sonntag, das ist Hasse nicht gelungen.
Hatte er die ganzen Werke im Kopf?
Gardiner: Nein, aber er konnte die verschiedenen Möglichkeiten etwa eines Fugenthemas und was daraus entstehen könnte, sofort gesehen, das hat er phänomenal verstanden.
Die H-Moll-Messe ist ja auch nicht als Gesamtplan entstanden, das Sanctus entstand viel früher...
Gardiner: ...und andere Sätze sind sogar Parodiesätze.
Dennoch hat man diesen grandiosen Eindruck, dass es "so und nicht anders" sein soll, wenn man die gesamte Form betrachtet.
Gardiner: Ich glaube nicht, dass er 1733 schon die ganze Messe konzipiert hat. Später, als er die restlichen Sätze dazugefügt hat, hat er in den ersten beiden Sätzen auch noch Änderungen vorgenommen, es gab zum Beispiel in der Urfassung keinen Kontrabass.
Das explizite "Bewerbungsschreiben" für Dresden, woran kann man das direkt in der Komposition merken?
Gardiner: Nehmen Sie das "Laudamus Te", das ist für Faustina geschrieben, wenn sie sich etwa die Verzierungen der Gesangsstimme anschauen und auch die Instrumentallinien sind ganz sicher für die Dresdner Spezialisten wie den Konzertmeister Pisendel entstanden.
Gab es denn eine Idealform für eine Dresdner Messe?
Gardiner: Die typische Dresdner Messe ist von Lotti und Caldara begründet, bei Bach ist eine ungleich größere Dichte und ein großer Kontrapunkt vorhanden, aber vor allem die Form ist sehr gut kalkuliert gewesen.
Im Gegensatz dazu steht die Musik von Zelenka mit vielen überraschenden Elementen...
Gardiner: Vor allem seine Instrumentalmusik, das ist in Harmonik und Struktur oft sehr verrückte Musik. Sie ist auf jeden Fall böhmischer Natur.
Das Miserere c-Moll entstand 1738, also sehr nah an der H-Moll-Messe.
Gardiner: Der Akzent liegt im Konzert auf Bach, daher habe ich nicht noch eine Messe von Zelenka ins Programm genommen. Es ist schon ein Geschenk, das Bach-Werk in der Frauenkirche aufführen zu dürfen. Als Engländer bin ich wohl besonders sensibel auch für die Geschichte dieses Bauwerks, und meine Liebe zu Bach zählt da zu allererst, dieses Stück wollte ich dort machen. Und dann kam die Idee, etwas Passendes zu ergänzen, das war Zelenka, und als Kontrast die Harmoniemesse, ebenfalls ein Gipfelwerk.
Sie bringen den von Ihnen gegründeten Monteverdi-Choir mit zu diesem Konzert und musizieren mit der Staatskapelle, die vor allem durch Musik von Wagner und Strauss glänzt. Nun spielen Sie Bach und Zelenka mit ihnen...
Gardiner: Das ist meine Herausforderung...
Haben Sie bestimmte Vorgaben im Voraus gemacht, was die Aufführungspraxis oder Besetzung des Orchesters angeht?
Gardiner: Nein, ich bin ein praktisch veranlagter Dirigent - ich höre zu, was gespielt wird und wir werden sehen, wie wir zusammenkommen. Nicht didaktisch, pädagogisch - ich bin kein Fanatiker und ich schätze das Orchester sehr. Der Zweck der Zusammenarbeit ist ja gerade die musikalische Begegnung, sonst hätte ich auch mein eigenes Orchester mitbringen können. Eigentlich ist das ja vergrößerte Kammermusik, man muss den Musikern einzeln respektvoll und mit Freude zuhören und sie zu dieser Musik einladen. So kann man zusammen musizieren ohne hierarchischen Dogmatismus.
Es gibt also kein "richtig" und "falsch" in der alten Musik?
Gardiner: Das ist Quatsch. Das sind die Dogmatiker. Es gibt kein historisches "So ist es". Die Ansichten haben sich natürlich in den Jahren gewandelt. Ich habe einen Enthusiasmus für originalen Klang und historische Aufführungspraxis, aber für meinen Geschmack ist es eher ein Versuch, die Klangwelt eines Komponisten zu etablieren und zu rekonstruieren, soweit es möglich ist. Aber dann muss man sagen, wir sind Leute des 21. Jahrhunderts und die Musik muss zu uns klingen und sprechen und mit dem Sauerstoff des 21. Jahrhunderts geatmet sein, dann wird es erst richtig lebendig.
Sie haben sehr viele Werke aufgeführt, auch wiederentdeckt. Verändert sich in so einem langen Zeitraum die Ansicht auf ein Werk, auf einen Komponisten?
Gardiner: Ich glaube, meine Erfahrung im Bachjahr 2000, alle Kantaten in einem Jahr aufzuführen, hat sehr viel verändert, z.B. im Hinblick auf die Bachschen Passionen - die Passionen sind keine Einzelwerke, sondern eigentlich große Kantaten, sie waren das Gipfelwerk, der Höhepunkt eines Jahrgangs, aber sie sind nicht unterscheidbar von den Kantaten, denn sie haben die gleiche musikalisch-theologische Absicht, es ist Drama Sacra, und zwar wirklich Drama und wirklich Sacra. Das sind auch die Kantaten in kleiner Form. Die Passionen haben die unglaubliche narrative Intensität, das ist so rührend für alle Menschen, egal ob gläubig oder nicht, die Geschichte hat so einen starken humanistischen Aspekt, man ist da sofort involviert, das ist eine Oper für den Intellekt, für die Seele.
Sie haben durch das Kantatenprojekt also auch neue Erkenntnisse für das Musizieren gewonnen?
Gardiner: Natürlich verändert man sich ständig im Laufe der Jahre, aber das Bachprojekt 2000 war so markierend, stark und lebenswechselnd, dass das Musizieren davor ein anderes war als danach - es mag banal klingen, aber wenn ich nun Musik dirigiere, bin ich regelrecht begeistert und sehr dankbar, man hat diese fantastische zauberhafte Welt verschiedener Klänge, damit etwas zu schaffen, zu arbeiten - das Bewusstsein ist anders geworden, ja.
Wie schätzen Sie die heutige Situation des Konzertlebens ein, insbesondere der jüngeren Generation?
Gardiner: Zunächst ist es sehr vielfältig heutzutage, es gibt viel mehr musikalische Entdeckungen. Und ich bin immer wieder überrascht, wieviele junge begabte Musiker es gibt und wie engagiert diese sind. Die Unterstützung der Kultur ist oft schwierig ist, die Bedingungen sind hart und es gibt natürlich Probleme in der musikalischen Bildung, oder nehmen Sie die Hausmusik, die fast völlig verschwunden sind. Ich arbeite u.a. mit dem National Youth Orchestra of Great Britain zusammen, und ich bin doch positiv von der Ernsthaftigkeit der jungen Leute und der Kreativität überrascht. Da bin ich sehr optimistisch. Unsere Erfahrungen und die Liebe zur Musik, die müssen wir weitergeben.

----
23.06.2007, 20.00 Uhr, Frauenkirche Dresden
Monteverdi Choir und Solisten,
Sächsische Staatskapelle Dresden
Ltg. Sir John Eliot Gardiner

Jan Dismas Zelenka
«Miserere» c-Moll
Johann Sebastian Bach
Missa h-Moll BWV 232I
Joseph Haydn
Messe B-Dur HOB. XXII:14
(«Harmoniemesse»)

Montag, 18. Juni 2007

Geistvoll, weich und gelassen

Uraufführung der 9. Sinfonie von Alfred Schnittke in der Frauenkirche

Manche Dinge bleiben unerklärlich. Da gelingt es der Dresdner Philharmonie, ein Musikereignis von internationalem Rang samt berühmten Interpreten wie dem Hilliard-Ensemble in die Stadt zu holen und man wundert sich über eine gerade einmal halb gefüllte Frauenkirche. Doch das Konzert selbst wirkte lange nach. Uraufgeführt wurde die 9. Sinfonie von Alfred Schnittke, seinem letzten vollendeten Orchesterwerk. Schnittke starb nach schwerer Krankheit 1998 und hinterließ die Sinfonie als musikalisches Vermächtnis. Es musste lange Zeit vergehen, ehe sich der Wunsch der Witwe Irina Schnittke erfüllte, dass das Manuskript eine aufführbare Fassung erhält. Sich diesem Werk nun rezipierend zu nähern, verlangt einiges an Beschäftigung mit der Materie, stellt doch der spezielle Nimbus letzter bzw. unvollendeter Werke in der Musikgeschichte bei vielen Komponisten ein spannendes Kapitel dar. Den Abschied von der Welt musikalisch zu artikulieren, dafür gibt es weder ein Rezept noch eine gültige musikalische Sprachform. Tod und Vergänglichkeit sind für Komponisten ohnehin immer Themen großer musikalischer Werke gewesen, doch die Gewissheit des persönlichen Abschieds von der Welt mag eine Partitur erzeugen, die sich einer Deutung schlicht entzieht. Nun erklangen die drei vollendeten Sätze der 9. Sinfonie von Schnittke in der Rekonstruktion des russischen Komponisten Alexander Raskatov vor, der insgesamt vier Jahre an der Dechiffrierung des Autografs gearbeitet hat. Reduziert sind in dieser Partitur vor allem die Klangfarben und die rhythmische Finesse, faszinierend ist allerdings der kontrapunktische Bereich. Schnittke findet in der Neunten zu einer sehr frei wirkenden Arbeit mit Harmonik und vor allem Skalenläufen, die aber niemals dramatische Aufschwünge oder Abstürze demonstrieren, sondern eher gelassen im Raum rotieren - am ehesten erinnert die Musik an die Concerti Grossi Schnittkes, in denen ebenfalls das freie Spiel mit Formen und Entwicklungen dominiert. Selten, aber dann doch mit der bekannten Härte, blitzt der "andere" Schnittke aus der Partitur: in Extremlagen der Hörner, geschärfter Harmonik oder dem metallischen Gesang des Cembalos im Orchester. Doch in der Neunten überwiegt eine weiche, geistvolle Grundhaltung, die sich vor allem in den ruhigen Satzschlüssen zeigt. Dennis Russell Davies verhalf der Partitur am Dirigentenpult zu einer lebendigen Interpretation und das Orchester konnte durch Aufmerksamkeit und transparentem Klang der Orchestergruppen überzeugen. Eingebettet war die Uraufführung in einen Rahmen aus alter und neuer Musik, und dies wäre sicher ganz im Sinne Schnittkes gewesen. Vor allem die Entscheidung für die Motetten von Guillaume de Machaut war im Vergleich zu Schnittkes Werk frappierend, denn gerade die alte Motettenkunst scheint in der motivischen Arbeit der Neunten eine besondere Rolle zu spielen. Nicht durchweg überzeugend war die Interpretation der drei- und vierstimmigen Motetten durch das Hilliard Ensemble. Deren besondere Souveranität beim Umgang mit dieser Musik leuchtet zwar durch jede Note, doch hätte die Verschmelzung der Stimmen noch größer sein können, die Gestaltung indes markanter. Das Hilliard Ensemble und Elena Vassilieva (Mezzosopran) waren zum Abschluss des Konzertes die Solisten in Alexander Raskatovs "Nunc Dimittis", einem musikalischen Epilog zur 9. Sinfonie, "in memoriam Alfred Schnittke" komponiert. Raskatov kombinierte in diesem langsamen musikalischen Satz Texte von Joseph Brodsky und des Heiligen Siluan und verblieb mit wenigen klar gesetzten musikalischen Elementen in der Atmosphäre liturgischer Musik russischer Prägung, auf diese Weise erfuhr das Konzert ein angemessenes, ernstes und sogar tröstliches Ende.

Freitag, 15. Juni 2007

Abschied vom Leben

Zur Uraufführung der 9. Sinfonie von Alfred Schnittke

Vor neun Jahren verstummte eine der wichtigsten kompositorischen Stimmen des 20. Jahrhunderts, der russische Komponist Alfred Schnittke, der zuletzt in Hamburg lebte und lehrte. Der schwerkranke Schnittke schrieb seine 9. Sinfonie im Sommer 1998 kurz vor seinem Tod, ein Uraufführungsversuch zu Lebzeiten des Komponisten misslang. Nun hat der russische Komponist Alexander Raskatov (*1953) die Sinfonie rekonstruiert, sie wird am Sonnabend von der Dresdner Philharmonie in der Frauenkirche in Anwesenheit der Witwe, Frau Irina Schnittke, uraufgeführt. Alexander Keuk sprach mit Alexander Raskatov.

Wenige Werke haben bereits vor ihrer Uraufführung eine so bewegte Geschichte erfahren wie die 9. Sinfonie von Alfred Schnittke - weshalb erleben wir erst jetzt die Uraufführung dieses wirklich letzten Werkes des Komponisten?

A.R.: Schnittke war schwerkrank, er hatte bereits mehrere Schlaganfälle hinter sich. Er war zum Teil gelähmt und schrieb die Noten der neunten Sinfonie mit links, mit zitternder Hand. Vor seinem letzten Schlaganfall, an welchem er 1998 verstarb, hatte er bereits ein Manuskript der Neunten angefertigt - mit klarer Schrift und in ganz anderer Stilistik. Er verwarf diese Skizzen und schrieb das komplette Stück neu. Es liegen drei komplette Sätze vor. Schnittke gab das Stück dem Dirigenten und Freund Gennady Rozhdestvensky zur Uraufführung - dessen bearbeitete Version, die er vom Rundfunkmitschnitt abhörte, missfiel ihm aber. Bald darauf starb Schnittke und es war ein großes Anliegen der Witwe, Irina Schnittke, dass seine letzte komponierte Musik wieder aufgeführt werden kann. Der Komponist Nikolai Korndorf begann die Noten zu rekonstruieren, starb aber 2001, dann fragte mich Irina Schnittke, ob ich mich der Sinfonie annehmen könnte. Später erhielt die Sinfonie von mir den Beinamen "Es muss sein" - damit weise ich auf Schnittkes starken Willen zur musikalischen Äußerung auch in seinem letzten Lebensabschnitt hin.

Jedes Werk von Schnittke ist einzigartig und vielschichtig, die Folge seiner neun Sinfonien läßt sich nicht thematisch in eine Reihe bringen. Was kennzeichnet diese letzte Sinfonie?

A.R.: Die Sinfonie ist ein komponierter Abschied vom Leben. Schnittke wusste, dass es mit ihm zu Ende geht, doch dieser Mann hatte eine unglaubliche kreative Kraft, auch bei den schicksalshaften Schlaganfällen, die ihn vorher ereilten entwickelte Schnittke unglaublich produktive Phasen, in denen Orchesterwerke und in den 90er Jahren auch Opern entstanden. Am Ende war der Körper kaum noch zum Überleben fähig, aber die Hand schrieb stetig weiter die Noten.

Wie gingen Sie an diese schwierige Arbeit heran? Das Wissen, ein musikalisches Vermächtnis zu betreuen, erfordert eine große Verantwortung.

A.R.: Dieser war ich mir bewusst und ich lege Wert auf die Feststellung, dass dies die 9. Sinfonie von Schnittke ist, nicht eine Bearbeitung von Raskatov, die Noten lagen ja fertig vor, sie mussten "nur" in eine aufführbare Form gebracht werden. Ich habe mir für die Arbeit eine spezielle Lupe gekauft. Zunächst begann eine Analyse, dann habe ich mit verschiedenen Farben sichere und zweifelhafte Passagen markiert und quasi die Sinfonie mehrfach nachgeschrieben, in immer mehr freigelegten Schichten. Ich habe 2003 begonnen, die Arbeit hat also vier Jahre gedauert. Es war wichtig, bei der Rekonstruktion der Noten ein Gefühl des Stiles und der Absicht der Musik zu entwickeln, in dem Bewusstsein um den speziellen, charakteristischen Klang von Schnittkes Musik. Beispielsweise gibt es in Schnittkes Manuskript kaum Angaben zu Tempo und Dynamik, dies habe ich behutsam mit der stetigen Vorstellung, wie es Schnittke gemeint haben könnte, ergänzt. Es gab auch emotionale Prägungen während der Arbeit, man beschäftigt sich in dieser Partitur zwangsläufig mit der musikalischen Artikulation von Tod oder Jenseits und ich glaube, Schnittke entwickelte in dieser Sinfonie eine Idee des "Verschwindens", des Abschiednehmens, dies scheint mir in der Musik sehr deutlich.

Erklärt das die fast kammermusikalische Struktur des Werkes?

A.R.: Ja, es ist fast eine Art Kammersinfonie. Schnittke hatte sicher nicht die Absicht, äußerlichen Erfolg mit dem Stück zu haben - es ist nahezu "effektfrei" und ein sehr ernstes, nach innen gerichtetes Werk. Überdies ist es mit dem Gedanken des Abschieds fast monothematisch und steht damit im Kontrast zu Schnittkes früheren, oft doppelbödigen Werken, in denen Gegensätze und Infragestellungen eine große Rolle spielen.

Also hört man eine große Konzentration, eine Zurücknahme aller äußerlichen musikalischen Dekorationen?

A.R.: Es ist eine Art Freiheit, die Schnittke am Ende seines kompositorischen Schaffens auslebte, die Stimmen des Orchesters verlaufen in klarer Polyphonie. Es gibt keinen Impressionismus in dieser Sinfonie, es ist kein Orchestergemälde, sondern eine Zeichnung.
Diese Direktheit der musikalischen Sprache, die in ihrer Kargheit dennoch nicht "leicht" vom Hörer zu fassen ist, führt vielleicht zur Seele von Schnittkes Musik, diese 9. Sinfonie ist in gewisser Art eine "ausgezogene" Musik, bei der Arbeit spürte ich oft die sehr spezielle Energie des Werkes, die sprachähnlichen Charakter hat.

Im Konzert wird außerdem ein Stück von Ihnen, Herr Raskatov, uraufgeführt, "Nunc dimittis", für Singstimmen und Orchester. In welcher Beziehung steht das Werk zu Alfred Schnittke?

A.R.: Mein Stück wurde zwar im Voraus als eine Art Finalsatz zur Neunten angekündigt. Doch "Nunc dimittis" ist von der Sinfonie zu trennen, maximal würde ich es als imaginären Epilog zu bezeichnen. Ich schrieb das Stück "in memoriam Alfred Schnittke" und verwendete Texte von Joseph Brodsky, einem der Lieblingsdichter Schnittkes, und des russischen Heiligen Siluan. Außerdem enden viele Sinfonien Schnittkes mit einem langsamen Satz, aber ausgerechnet die Neunte endet mit einer Art "Presto". Deswegen weist mein langsamer Epilog noch einmal auf diese Finali hin.

Die Zusammenführung geistlicher und profaner Themen in einem Werk wäre ja auch eine Hommage an Schnittke, der ja beiden Welten in seinen Kompositionen gleichberechtigten Raum gab, zudem singt das Hilliard Ensemble im Konzert Motetten von Guillaume Machaut, und weist somit auf die Tradition hin, die für Schnittke Reibungsfläche und Bedingung für die Entstehung neuer Werke war.

A.R.: Alfred Schnittke war ein sehr gläubiger Mensch, aber die weltlichen Themen integrierte er ebenso. Er war quasi polykulturell, nicht nur aufgrund seiner Herkunft, sondern auch in seinen vielen Interessen denen er nachging. Die Frage von Identität und Tradition war immer wichtig für ihn.

Welche Bedeutung hat Schnittke im heutigen Russland? Er gehört ja zu einer ganzen Reihe russischer Komponisten, die im Westen leben bzw. gelebt haben?

Es ist eine sehr komplexe kulturelle Situation im gegenwärtigen Russland. Schnittke ist als großer Komponist anerkannt und wird oft gespielt, vor allem auch seine vielen Filmmusiken, von denen man hier nur wenige kennt. Doch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich im kulturellen Leben Russlands vieles verändert, die Komponisten sind nicht so gut vernetzt wie früher, und manche mussten schon aus finanziellen Gründen emigrieren. Schnittke wäre auch gerne zurückgekehrt, aber dies verhinderte vor allem seine Gesundheit. Ich habe die Befürchtung, dass die jüngere Generation russischer Komponisten sich immer weniger mit der Tradition und der russischen Kultur identifizieren. Es darf keine Uniformität entstehen und es ist niemals ein gutes Zeichen, wenn die intellektuellen Größen das Land verlassen.

Dennis Russell Davies wird die Uraufführung von Schnittkes 9. Sinfonie leiten. Inwieweit wird das Werk noch im Probenprozess gestaltet oder möglicherweise verändert?

Es gibt manche Details, in denen z.B. durch eine Unlesbarkeit mehrere musikalische Lösungen möglich sind, das wird in den Proben deutlich werden. Aber die Geschichte dieser Sinfonie startet ja jetzt erst. Ich bin froh, dass diese bisher ungehörte Musik Schnittkes nun erklingen wird und weitere Aufführungen sind bereits mit dem Bruckner-Orchester Linz [am 30.6. in Linz/A] und der Juilliard School geplant.
---
Sa 16.06.2007 20.00 Uhr, Frauenkirch]

Guillaume de Machaut: Motetten
Alfred Schnittke: 9. Sinfonie (Uraufführung), Rekonstruktion des Manuskripts von Alexander Raskatov
Alexander Raskatov: Nunc dimittis - in memoriam Alfred Schnittke (Uraufführung)

The Hilliard Ensemble
Elena Vassilieva, Mezzosopran
Dresdner Philharmonie, Leitung Dennis Russell Davies

Montag, 11. Juni 2007

Geheimnisvolle Tiefen nicht erreicht

Miguel Gomez-Martinez dirigiert Mahler und Puccini im Zykluskonzert

Im Congress Center Dresden fand das letzte Zykluskonzert der Dresdner Philharmonie der laufenden Saison statt, eingeleitet durch drei Orchesterstücke aus der Oper "Le Villi" von Giacomo Puccini. Angesichts der großangelegten 7. Sinfonie von Gustav Mahler, die darauf folgte, gerieten die gefälligen Sätze von Puccini bald in den Hintergrund der Hörerinnerung, dabei hatte der spanische Gastdirigent Miguel Gomez-Martinez sich um ein lichtes, transparentes Klangbild bemüht. Doch mehr als ein flüchtiger Eindruck von Puccinis früher orchestraler Kunst entstand hier nicht. Gomez-Martinez beschwor nach der Pause seinen Dirigentenstab, die fünfsätzige Siebte ist für Musiker wie Dirigenten eine besondere Herausforderung. Keine andere Sinfonie Mahlers ist so von Abbrüchen, plötzlichen Stimmungswechseln und rauschhaften Passagen gekennzeichnet und statt des etwa durch den von Mahler verehrten Bruckner hinlänglich bekannten finalen Orchesterrausches macht Mahler in der Siebten im Rondo-Finale durch zwei Akkorde lediglich "den Deckel zu". Das macht eine eindeutige Richtung der Interpretation schwer. Den Zuhörern wird noch die tiefgründige Deutung des Werkes mit der Philharmonie unter der Leitung von Marek Janowski in bester Erinnerung sein. Miguel Gomez-Martinez arbeitete nah an der Partitur und versuchte Mahlers zum Teil übergenaue Anweisungen mit temperamentvollem körperlichen Einsatz umzusetzen. Der Gastdirigent konnte den Ansprüchen des Werkes nicht immer gerecht werden, im 1. Satz kam er über die schlichte Organisation der Partitur kaum hinaus - großformaler Zusammenhang und die Erforschung geheimnisvoller Klangtiefen waren hier zu selten spürbar. Im Detail waren jedoch von den überaus konzentriert agierenden Philharmonikern wunderbare Klangfarben zu hören. In der Tempowahl warf beispielsweise die viel schneller genommene Reprise im 1. Satz warf Fragen auf, ebenso Gomez-Martinez' Verständnis von einem "Andante Amoroso" der zweiten Nachtmusik, die erst gegen Mitte des Satzes ein entspanntes Tempo erreichte, das der zarten Begleitung von Gitarre und Mandoline entgegenkam. In der 1. Nachtmusik hätte man die rhythmischen Ebenen zwischen Triolenfluss und Marschelementen noch stärker konturieren können, im 3. Satz, "Scherzo" waren die fragmentarisch-schattenhaften Passagen oft zu laut, dafür war hier das Tempo konsequent in Spannung gehalten. Die gewisse Flüchtigkeit in der Interpretation machte insgesamt den Eindruck eines nicht fertigen Werkes, zudem schockte Gomez-Martinez vor allem im Finale durch plötzliche Tempoattacken und eckige Übergänge, auf die die Musiker nicht wirklich vorbereitet waren. Faszinierend war allerdings, wie die Philharmonie im "fremden" Saal Homogenität und energetischen Schub entwickelte; trotz vor allem gefährlich direkter Akustik für die Holzbläser setzte genau diese Orchestergruppe die intensivsten Akzente des Stückes. Die souveränen und markanten Tenorhorn- (Olaf Krumpfer) und Hornsoli (Jörg Brückner) bereicherten die Aufführung ebenfalls. Anzuerkennen ist die Aufführungsleistung in jedem Fall, und gerade bei Mahler bleibt manches wie der von Gomez-Martinez überaus lang gehaltene vorletzte Akkord eben Ansichtssache.

Montag, 4. Juni 2007

Steine, Vögel und Urgewalt

Recital Schleffen Schleiermacher im Kulturrathaus

Die wohl spannendsten Klanglandschaften der diesjährigen Musikfestspiele zeichnete der Pianist Steffen Schleiermacher bei einem Recital im Kulturrathaus. Das eher mäßig besuchte Konzert wurde zu einem packenden Bilderbogen mit Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Schleiermachers Konzerte sind immer auch dramaturgisch "durchkomponiert", so präsentierte er im ersten Teil quasi einen Bogen aus fünf Stücken mit einem Prolog von John Cage, diese Sechsteiligkeit spiegelte sich dann im zweiten Teil in der Klaviersuite Nr. 8 "Bot-Ba" von Giacinto Scelsi. "In a Landscape" von Cage zelebrierte Schleiermacher nahezu schwebend, der unaufhörliche leise Notenfluss wirkte als ruhiges Vergehen von Zeit. Kontrastierend dazu Olivier Messiaens "La Chouette Hulotte" (Der Waldkauz) aus dem "Catalogue d'oiseaux", sicherlich eines der schwerer zugänglichen Stücke aus der Sammlung. Schleiermacher spielte das Stück darum auch deutlich strukturiert und grenzte die einzelnen Formabschnitte klanglich gut voneinander ab. Zweimal gab es einen "Steinschlag" im ersten Teil: Nicolaus Richter de Vroes "Gabbro" und "Peridotit" (letzteres eine Uraufführung im Konzert) sind Klavierstücke, die von Gesteinsformen inspiriert wurden - rhythmische Zacken und plötzliche Ballungen im ersten Stück sowie ein "bronzefarbenes" toccatenähnliches zweites Stück wiesen auch hier einen deutlichen Bezug zu Natur und "Klanglandschaft". Schleiermacher steuerte außerdem sechs eigene Stücke aus einem Zyklus für Kinder dazu: kleine plastische Stücke, die ihre Wirkung nicht verfehlen und auf frappierende Weise zeigen, wie natürlich und farbenreich neue Musik klingen kann. Mit Toshio Hosokawas "Nacht-Klängen" endete der erste Teil, in diesem Werk wie im gesamten ersten Teil war bereits faszinierend, mit welcher Konzentration und Sensibilität für den Anschlag Schleiermacher in jede dieser Landschaften eintauchte. Für Giacinto Scelsis (1905-1988) Klaviersuite "Bot-Ba" jedoch waren diese Fähigkeiten noch einmal zu multiplizieren, das Werk verlangt eine bedingungslose Beherrschung und vor allem einen kühlen Kopf in der Herangehensweise. Schleiermacher gelang beides und dazu eine überlegte Abstufung von meditativen Passagen und (ur-)gewaltigen Ausbrüchen, die sich aber mit kontrollierter, enormer Kraft entfalteten. Aus dem Nichts heraus entstehende Klangballungen und über eine lange Zeit bis ins Bodenlose gesteigerte Wellen wurden von Schleiermacher optimal und plastisch angelegt. Die exemplarisch zu nennende, Grenzen ausreizende Interpretation wies nachdrücklich auf den italienischen Komponisten hin, dessen geheimnisvolle, extreme Klangwelt viel zu wenig gehört und gespielt wird.

Mittwoch, 30. Mai 2007

Haydn vital und Finnland modern

Stuttgarter Kammerorchester und Mats Rondin gastierten in Loschwitz

Bei der "Welterbe"-Reise der Dresdner Musikfestspiele am Pfingstmontag stand als zweite Station die George-Bähr-Kirche Loschwitz auf dem Programm, in welcher das Stuttgarter Kammerorchester die Zuhörer erwartete. Das renommierte, seit über 60 Jahren bestehende Orchester war in nach seiner Gründung vor allem durch seine Interpretationen der Musik des Barock und der Wiener Klassik bekannt. In den letzten Jahren hat das Orchester sein Repertoire beständig erweitert, die kleine Kammerorchesterbesetzung läßt vielfältige Entdeckungsreisen zu, nicht zuletzt auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik. Die hohe Qualität der Interpretation und das jahrelang gewachsene, homogene Zusammenspiel der Musiker konnten die Zuhörer beim Gastspiel in Loschwitz verfolgen. Der schwedische Cellist und Dirigent Mats Rondin hatte mit den Musikern ein Programm erarbeitet, welches zwei in hiesigen Breiten recht vernachlässigte finnische Komponisten der Moderne vorstellte: Aulis Sallinen und Joonas Kokkonen, beide verbunden durch eine Lehrer/Schüler-Beziehung und doch trotz Akzentuierung des sinfonischen OEuvres kompositorisch völlig verschieden, wenngleich beide sich deutlich zur finnischen Tradition und damit zu Sibelius bekannten. Im Konzert hinterließ das 3. Streichquartett "Aspekte des Trauermarsches von Hintrikki Peltoniemi" eine deutlich stärkere Wirkung als die etwas unterkühlte "Musik für Streichorchester" von Kokkonen. Die Orchesterfassung von Sallinens Quartett beeindruckte durch ihre Farbigkeit und stilistischen Witz, der aber niemals platt wirkte - dafür sorgte allein die spannende ostinate Verarbeitung des Themas. Mats Rondin gelang eine fein ausgehörte Wiedergabe des Werkes, die nicht mit opulentem Klang geizte, aber eben auch die Akustik der Kirche im Zusammenspiel berücksichtigte. Ähnliches galt für das Cellokonzert C-Dur von Joseph Haydn. Außerordentlich vital und mit sichtbarer Freude am kammermusikalischen Musizieren übertrug diese Musik sich in den Kirchenraum. Rondin leitete die Aufführung vom Solocello aus und konnte sich zwanzig aufmerksamer Mitspieler gewiss sein, gleich ob im breit ausgelegten Mittelsatz oder im überschwänglichen Finale. Rondin gestaltete das Konzert überdies im stetigen Ausgleich zwischen lebendigem Vorwärtsdrang und intensivem Ausspielen der Melodielinien - eine durchaus angenehme Deutung. Das Abschlusswerk von Joonas Kokkonen war sperrig. Dodekaphonie streitet mit Traditionsverbundenheit, heraus kommt ein in vielen Passagen zu akademisch anmutendes Werk. Stark wirkte allerdings der langsame Satz, den die Stuttgarter mit großer Ruhe formten. Bonmot am Rande: War im Konzert von Heinrich Schiff ein Werk von Olli Mustonen vom Programm genommen worden, so tauchte hier plötzlich eines auf: Rondin musizierte eine Zugabe für Cello und Kammerorchester, und so lernte man doch noch ein allerdings recht konventionelles Werk des finnischen Pianisten kennen.

Dienstag, 29. Mai 2007

Herbe Enttäuschung

Heinrich Schiff und Stefan Vladar in der Semperoper

Er zählt zu den bedeutendsten Cellisten der Gegenwart, prägend für eine ganze Generation von Musikern und es dürfte kaum einen Klassikfreund geben, der ihn nicht schon einmal live oder auf Tonträgern gehört hat. So zählte das Cellorecital von Heinrich Schiff in der Semperoper bereits im Voraus zu den Höhepunkten der Musikfestspiele - allein die Einlösung dieses Anspruches gelang nicht, im Gegenteil, das Konzert dürfte für Inhaber manch teurer Karten ein Ärgernis gewesen sein. Das lag weniger an Heinrich Schiff alleine, der zumindest in einigen Werken seine Klasse zeigte, als vielmehr an seinem Partner am Klavier, Stefan Vladar. Unerklärlich ist mir dennoch, wieso Schiff mit einem Pianisten zusammenarbeitet, der den Gedanken eines kammermusikalischen Duo-Abends nicht mit Leben erfüllt. Vladar zeichnete sich durch eine reichlich unmusikalisch zu nennende Demut am Flügel aus, die die pianistische Gestaltung völlig zunichte machte, was für Stücke von Schumann und Brahms, in welchem der Klavierpart wichtiger Motor der Struktur ist, den Tod bedeutet. Den 3. Satz der "Fantasiestücke" von Schumann gestaltete Schiff sehr impulsiv, Vladar war da schon nicht mehr zu hören, untergetaucht trotz eines Notensatzes, der eigentlich das Gegenteil anweist. Das nahezu am besten wirkende Werk des Konzertes war ausgerechnet die kurze Komposition "Grave - Metamorphosen für Cello und Klavier" von Witold Lutoslawski, deren klare Strukturen zumindest eine eindeutige Interpretation hinterließen. Statt der Sonate des Finnen Olli Mustonen erklang die Cellosonate von Claude Debussy, die weder in der Themengestaltung noch klanglich überzeugen konnte - beide Musiker waren hier zu sehr detailverliebt, verloren den Zusammenhang und waren außerdem selten zusammen auf einem Punkt. Jean Sibelius' "Malincolia" geriet unter dem packenden, stellenweise auch etwas groben Zugriff von Schiff zu einer dramatischen Erzählung, doch auch hier fehlte beiden Musikern der wirkliche Zugang zur Musik, die eine überzeugende Interpretation ausmacht. Kühl und abgearbeitet wirkte der Notensatz, von Vladar war kaum einmal ein interessanter Akzent zu hören. In der 1. Sonate e-Moll von Johannes Brahms überzeugte dann Heinrich Schiff mit markanter Ausgestaltung der drei Sätze. Ein großer Ton, eine selbstverständliche, überlegte Gestaltung und Schiffs absolutes Versenken in die Melodielinien war durchaus überzeugend. Doch das letzte Herzblut für diese leidenschaftliche Musik fehlte angesichts eines Pianisten, der jede noch so kleine Steigerung im Keim erstickt, die Partitur missversteht und sich dermaßen einem Solisten unterordnet, dass die Kompositionen und ihre Strukturen nicht mehr erkennbar sind. Was ein Höhepunkt werden sollte, geriet zu einer herben Enttäuschung und Schiff ist anzuraten, sich zukünftig gute musikalische Partner zu suchen.

Nuancenreiche Stimmungen

Klavierrecital Severin von Eckardstein bei den Musikfestspielen

Wie in den vergangen Jahren gibt es auch bei diesen Musikfestspielen eintägige Reiseangebote zu kulturellen Themen, bei denen an bedeutenden Orten kleinere Konzerte stattfinden. Die "Weinlandschaftsreise" führte am Pfingstsamstag zunächst in das Schloss Albrechtsberg, wo der Pianist Severin von Eckardstein für die Zuhörer ein einstündiges Solorecital darbot. Von Eckardstein hatte ein spannendes Programm vor allem unter dem Aspekt der "Klanglandschaft" ausgewählt, das von Schumann bis Messiaen reichte. Zu Beginn zeigte der ARD-Preisträger in Leos Janaceks Zyklus "Im Nebel" gleich seine besonderen Fähigkeiten in der Klangformung. Von Eckardstein besitzt eine subtile, sehr variable Anschlagskultur, die besonders im Piano-Bereich unzählige Nuancen
aufweist und rasant ausgeführte Steigerungen, aber auch Entspannungen ermöglicht, was für Janaceks Musik ideal erscheint. Damit interpretierte er den formal schwierig zu fassenden Zyklus wie einen nahezu improvisiert anmutenden Gedankenstrom, der eine ständige innere Melancholie aufwies, die sich nur im letzten Stück entladen darf. Von Eckardsteins Fähigkeit, verschiedene Stimmungen und Strukturen deutlich abzustufen und dennoch einen stringenten Fluss der Musik zu erzeugen, macht ihn ebenso prädestiniert für die Musik von Olivier Messiaen und Claude Debussy. In Olivier Messiaens Schlussstück aus "Catalogue des oiseaux" überzeugte zudem eine völlig überlegte und konsequent durchgeführte Fingertechnik. Auch die drei Stücke aus "Images" von Claude Debussy formulierte er klangsinnig und mit dem Mut zur leisen, unaufgeregten Gestaltung. Die einzige Kritik, die man anbringen kann, richtet sich gegen den recht müden Applaus des Publikums, das offenbar die typischen Solo-Schlager im Programm vermisste oder keinen Zugang zu der durchweg klug überlegten Interpretation der Kompositionen fand. Schließlich deutete von Eckardstein Schumanns Zyklus "Papillons" nicht als Abfolge von lauter Einzelstücken, sondern legte den ganzen Zyklus als Gesamtblock auf den Kontrast der einzelnen Tanzsätze an. Schnelle Stimmungswechsel, pianistische Lockerheit ein ausgeprägter Sinn für die jeweilige Stilistik der Kompositionen - das fügte sich zu einer überzeugenden Matinee im Schloss Albrechtsberg, der von Eckardstein noch die Etüde für die linke Hand von Felix Blumenfeld und ein Stück von Alexander Skrjabin folgen ließ.

Samstag, 26. Mai 2007

Mit Akkordeon und Schlagzeug durch Klanglandschaften

"Global Ear" horchte im Societätstheater in musikalische Welten

Sechs Jahre lang hat die Reihe "Global Ear" Interpreten, Komponisten und neue Werke vom ganzen Erdball her ins Societätstheater nach Dresden geholt. In rund 30 Konzerten wurden über 100 Werke gespielt, von denen viele noch nie in Deutschland oder Europa zu hören waren. Die Pionierarbeit von Klaus-Hinrich Stahmer, der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank und der Hochschule für Musik Dresden zeigt sich insbesondere in dem Punkt, dass manche der aufgeführten Komponisten sich mittlerweile auf wichtigen Musikfestivals etabliert haben. Offiziell war das 5. Konzert des sechsten Jahrgangs das letzte der erfolgreichen Reihe, doch der Leiter des Institutes für Neue Musik an der Musikhochschule, Jörn Peter Hiekel bekundete bereits Hoffnung und intensives Bemühen, der Reihe auch weitere Jahrgänge zu verschaffen, dann wahrscheinlich komplett unter dem Dach der Hochschule, die ja bereits kooperierend die Reihe betreute. Das letzte Konzert fand im Rahmen und unter der Thematik Musikfestspiele statt: "Klanglandschaften" also auch hier und im voll besetzten (!) Societätstheater führte die musikalische Reise über Japan, Taiwan und China nach Skandinavien und zurück nach Deutschland. Zunächst spielte das "Cherubin-Quartett", ein Streichquartett der Musikhochschule "Landscape I" von Toshio Hosokawa, ein in seiner Zerbrechlichkeit etwas ungeeignetes Stück für den Beginn, mit dem die Musikerinnen auch einige Probleme hatten, denn die Klanggestaltung war nicht überzeugend, außerdem hält das Stück den eigenen Anspruch des "Dialoges mit der Stille" gar nicht durch. Der international anerkannte Akkordeon-Virtuose Stefan Hussong erzeugte dann mit Yu Kuwabaras Solostück "Echoing and empty" ebenfalls einige Verwirrung, denn dieses Werk hatte genau wie Hosokawas Stück zwar reichlich avanciertes Klangmaterial aber eine antiquierte Formbehandlung, sodass man einigermaßen ratlos vor den Stücken stand. Anders Kaija Saariahos "Six Japanese Gardens", von Olaf Tzschoppe (Percussion) faszinierend interpretiert: hier wirkt die rhythmische Disziplin unmittelbar, und die Farbigkeit entsteht aus den feinsten Überlagerungen und Varianten der Schlagfolgen. Klaus Hinrich Stahmer steuerte selbst "Wie ein Stillstand der Zeit" für Sheng und Akkordeon bei und überraschte vor allem durch terzlastige Harmonik in den interessant verschmelzenden Instrumenten. Hier gab es außerdem eine Wiederbegegnung mit dem Shengspieler Wu Wei, der ja bereits in früheren Konzerten begeisterte. Zwei größere Werke standen nach der Pause an: "Fei Yang" der Japanerin Hope Lee für Akkordeon und Streichquartett zeigte viele westliche Idiome und eine nahezu studienartige Tonführung. Die daraus entstehende Banalität des Werkes war auch durch die Erläuterungen der Komponistin nicht wegzudiskutieren. Schließlich sorgten Stefan Hussong und Olaf Tzschoppe für einen einsamen Höhepunkt als Abschluss: "Metal Work" des Finnen Magnus Lindberg beginnt als echter Diskurs zwischen Akkordeon und (Metall-)Schlagwerk, heizt sich immer weiter auf und entlädt sich in einem markerschütternden Dialog aus Tam-Tams - dass die beiden Musiker das komplexe Stück mit sichtlicher Freude am Spiel interpretierten, spricht für die hohe Qualität des Konzertes. Hoffentlich nicht zum letzten Mal.

Mittwoch, 23. Mai 2007

Notenstrudel

Juho Pohjonen stellte skandinavische Klaviermusik vor

In Zusammenarbeit mit dem Finnland-Institut Deutschland fand in der Empfangshalle des Hygienemuseums am Montagabend ein gut besuchter Klavierabend statt, der im Focus der Reihe "Landschaften" und der Gaststadt Helsinki der Dresdner Musikfestspiele stand. Die Zuhörer erwartete ein breites Spektrum an skandinavischer Klaviermusik, wobei dieses Genre im Schaffen skandinavischer Komponisten zumeist einen Sonderfall darstellt, wie der Komponist Benjamin Schweitzer in seiner Moderation erläuterte. Denn die allseits bekannten "Lyrischen Stücke" von Edvard Grieg dienten dem Komponisten vor allem zum Broterwerb, bürgerliche Hausmusik wurde gern von den Verlagen veröffentlicht. Es verwundert daher nicht, dass gerade das Klavier als vielfältiges Studieninstrument der Komponisten für größere Werke verwendet wurde; die dargebotenen Werke von Grieg, Nielsen und Sibelius waren jedoch höchst unterschiedlich. Der junge finnische Pianist Juho Pohjonen arbeitete die Stimmungen und kleinen Geschichten der Klavierstücke sehr gut heraus und zeigte vor allem viele dynamische Nuancen im etwas überakustischen Foyer. Schön, dass der Zyklus "Die Bäume" von Sibelius trotz der folgenden Pause in seiner Kargheit und in verrätselten Wendungen nahtlos in die Moderne wies, die im 2. Teil des Konzertes ihren Platz hatte und gleich mit einem pianistischen Parforceritt startete: die 4. Klaviersonate des finnischen Komponisten Erkki Salmenhaara (1941-2002) entfaltet durch ein verbissen durchgehaltenes rhythmisches Muster eine ungeheure Sogwirkung. In dem akustisch nahezu dreidimensional wirkenden Notenstrudel gab es jedoch feine Abstufungen, die Pohjonen mit unglaublicher Ruhe, Übersicht und einem enormen Tempofeeling gestaltete. Durch diese vehemente Interpretation wirkte der 2. Satz daher auch wie von einem anderen Stern. Sehr flächig und virtuos war das Schlusswerk des Abends: "Dichotomie" des finnischen Dirigenten Esa-Pekka Salonen, der in den letzten Jahren auch als Komponist immer bekannter wird. Die körperlich-gestische Musik Salonens bezieht ihre Faszination aus einer schier unmenschlichen Dichte des Notensatzes, bei der Pohjonen aber weiterhin völlig entspannt schien und somit Steigerungen und rhythmische Ballungen mit voller Intensität entfalten konnte. Dennoch wirkte das Figurenwerk hier oberflächlicher als in der nahezu verzweifelt wirkenden Rotation in Salmenhaaras Sonate. Dass Pohjonen den starken Applaus auch noch mit einem hochvirtuosen und dennoch weich und flüssig dargebotenen Ravel-Werk beantwortete, läßt diesen finnischen Pianisten im Gedächtnis bleiben.

mehrLicht

Musik Kultur Dresden

Aktuelle Beiträge

Sie haben ihr Ziel erreicht.
Liebe Leserin, lieber Leser dieses Blogs, sie haben...
mehrLicht - 20. Jul, 12:04
Ein Sommer in New York...
Was für eine Überraschung, dieser Film. Der Uni-Professor...
mehrLicht - 19. Jul, 21:53
Sturmlauf zum Schlussakkord
Albrecht Koch beim Orgelsommer in der Kreuzkirche Auch...
mehrLicht - 14. Jul, 18:54
Wenn der "innere Dvořák"...
Manfred Honeck und Christian Tetzlaff im 12. Kapell-Konzert Mit...
mehrLicht - 14. Jul, 18:53
Ohne Tiefgang
Gustav Mahlers 2. Sinfonie im Eröffnungskonzert des...
mehrLicht - 14. Jul, 18:51
Sich in Tönen zu (ent-)äußern
Staatskapelle Dresden spielt Schostakowitschs "Leningrader"...
mehrLicht - 14. Jul, 18:50
Chopins Cellowelten
Kammerkonzert der Dresdner Philharmonie mit Sol Gabetta Für...
mehrLicht - 14. Jul, 18:48
Fest der Klangfarben
Saisonabschluss der Dresdner Philharmonie im Albertinum Verklungen...
mehrLicht - 14. Jul, 18:46

Lesen!

Hören!

van anderen

Sämtliche Weihnachtslieder machen
Kreidler - 26. Dez, 04:08
Jet Whistles / The Grand Exhalation
Jet Whistles / The Grand Exhalation (2025) Thunder...
Kreidler - 23. Dez, 04:02
Vom Buzzword zum Kollegen: Der KI-Hype hat den Gipfel erreicht
Künstliche Intelligenz (KI) prägte auch 2025...
gast - 22. Dez, 12:40
Ankündigung – Kreidler @Concertgebouw Brugge
Upcoming- www.concertgebou w.be/en/johannes-… [image. ..
Kreidler - 22. Dez, 04:31
Schwerkräfte im Vergleich
Gravity in the solar system pic.twitter.com/yrEzytrqlH —...
Kreidler - 21. Dez, 04:33
Schildkröte kapiert Skaeboarden
Just a turtle skateboarding: apparently it understood...
Kreidler - 20. Dez, 04:32

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

stuff

PfalzStorch Bornheim Pinguin-Cam Antarktis
Conil de la Frontera
Kram Blogverzeichnis - Blog Verzeichnis bloggerei.de

Status

Online seit 7309 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 24. Jul, 02:01

Credits


Dresden
hörendenkenschreiben
nuits sans nuit
Rezensionen
Weblog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
development