Rezensionen

Mittwoch, 5. November 2014

Brahms als Urerfahrung

Krystian Zimerman gastierte bei im Sinfoniekonzert der Staatskapelle

Die Vorfreude auf das 3. Sinfoniekonzert der Staatskapelle Dresden war kaum zu fokussieren - man war extrem gespannt auf die Begegnung mit dem großen Pianisten Krystian Zimerman, der vor 30 Jahren das letzte Mal in Dresden auftrat - da hatte er kurz zuvor den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewonnen. Gespannt war man auch auf den ehemaligen Chefdirigenten der Staatskapelle, Herbert Blomstedt, der mit regelmäßigen Konzerten in Dresden dem Orchester die Treue hält. Dabei beschränkt sich der 87-jährige keinesfalls auf ein enges Repertoire; dieses Mal beschenkte er die Dresdner mit einem Werk eines schwedischen Landsmanns - der 2. Sinfonie g-Moll von Wilhelm Stenhammar.

Denken wir an nordische Musik, so haben wir sofort die Namen Grieg, Sibelius und Nielsen im Sinn, leider kümmern sich nur wenige Orchester außerhalb Skandinaviens um die reichhaltige Musik neben diesen Lichtgestalten. Die Aufführung der gewichtigen Sinfonie des Spätromantikers Stenhammar war jedenfalls ein gutes Plädoyer. Im Stück lassen sich etliche Verbindungslinien zu Kontinentaleuropa und verschiedenen romantischen Schulen ziehen. Man würde Stenhammar allerdings unrecht tun, ihn zu stark damit zu konnotieren - die eigene Handschrift kam in der Interpretation durch Blomstedt sehr gut heraus und manifestierte sich vor allem in vielen ungewöhnlichen Formverläufen, eigener Instrumentation und manchen naiv anmutenden Themengestalten, die aber ihren Ursprung im schwedischen Volkslied und in geistlichen Gesängen haben. Auch die strenge, akademische Seite arbeitete das Orchester im Finale heraus, wobei man trotz Blomstedts höchst kundiger Leitung nicht das Gefühl bestreiten konnte, dass hier sinfonisches Neuland betreten wurde - die sofortige Lockerheit aus Erfahrung trat natürlich im Spielton nicht immer ein.

Nach dieser Neuentdeckung ging es in bekannte Gefilde zurück - an der Qualität von Johannes Brahms 1. Klavierkonzert d-Moll zweifelte wohl der Komponist selbst am meisten, heute ist es ein gewichtiges, dankbares Werk für alle Pianisten und Orchester. Krystian Zimerman sog schon im Vorspiel die Energie aus dem Orchester auf und gestaltete dann ein Musikerlebnis, dass man so leicht nicht vergessen wird. Grund dafür war sein Charisma, das von großem Ernst und Anspruch an das Werk bestimmt war und sich sofort dem Publikum mitteilte, dass fortan in den Bann gezogen wurde. Schwerlich lassen sich Worte finden, die Anschlagskultur, Phrasengestaltung und Übersicht über das gesamte Werk beschreiben - das wohl Geniale der Klavierkunst Zimermans manifestiert sich nicht in ausgestellter Perfektion, sondern in einer unglaublich energiereichen Selbstsicherheit, die Brahms Noten zu einer Urerfahrung werden ließ. Damit wurde auch Kategorien wie Geschmack oder Gefallen hinfällig, denn man geriet ins Staunen und folgte Zimerman willig auf dieser Reise durch die Schluchten dieses Klavierkonzertes, fühlte gar selbst die Sicherheit beim Hören, die der Pianist in jeder Phrase ausstrahlte.

So an die Hand genommen, konnte man die lyrischen Verästelungen des zweiten Satzes als auch Zimermans Temperament und Unerbittlichkeit in den Ecksätzen intensiv erleben, wobei Zimerman immer Maß und Überlegung, ja fast sogar eine edle Überlegenheit walten ließ. Herbert Blomstedt und die Staatskapelle verinnerlichten Zimermans Intentionen und konnten daher weit mehr als eine Begleitung verkörpern. Während man sich im ersten Satz in den Ausschlägen der Emotionen noch etwas abtastete, gelangen die anderen beiden Sätze im Dialogisieren außerordentlich gut. Eine Zugabe gab Krystian Zimerman nicht, es wäre in diesem Fall auch eine merkwürdige Überhöhung des Glücks gewesen, das am Ende auf der Bühne wie im Auditorium fühlbar war - es war alles gesagt.
(27.10.)

Katz und Maus mit neuen Instrumenten

Katz und Maus mit neuen Instrumenten
Kontraforte, Lupophon und eine Musikfabrik-Performance in Hellerau

Neue Instrumente und ihre Klangwelten standen vor allem am Dienstag und Mittwoch in Konzerten beim "Tonlagen"-Festival in Hellerau im Mittelpunkt. Darüber hinaus tönt aber das ganze Festspielhaus mit Instrumenten-Installationen etwa von Jan Heinke oder Hans van Koolwijk.
Dabei spielen nicht nur Kunstobjekte ein Rolle, sondern es wurden auch Instrumente vorgestellt, die im klassischen Musikleben ganz normal integriert werden sollen. So etwa Lupophon und Kontraforte, beides Instrumente, die ihre Familie im tiefen Klangregister ergänzen: das Lupophon ist eine sonore, warm klingende Bassoboe, das Kontraforte eine Weiterentwicklung des Kontrafagotts. Beide Instrumente wurden vom Instrumentenbauer Wolf in Kronach in enger Zusammenarbeit mit Musikern gebaut - das Kontraforte findet schon Eingang in die Sinfonieorchester, während das Lupophon eher in Spezialensembles für Neue Musik zu finden ist, hier sind auch die Komponisten gefragt, solche Oboenbasspartien als Klangfarbe zu verwenden.

Insofern war das Konzert am Dienstag in Kooperation mit dem Sächsischen Musikbund mit Élise Jacoberger (Kontraforte) und Martin Bliggenstorfer (Lupophon) nicht nur eine schöne Gelegenheit für die Zuhörer, die "neuen Tiefklänge" einmal im Kammermusikkonzert zu entdecken, sondern gleich acht junge Komponisten der hiesigen Hochschulen durften sich damit schöpferisch beschäftigen. Weil deswegen nur recht kurze Stücke heraussprangen, sich der Komponist also nicht nur am neuen Instrument, sondern auch an der schwierigen Form der Miniatur oder Studie abarbeiten musste, blieben manche der Kompositionen beinahe schon im Ansatz stecken. Interessanterweise erfahren die neuen Instrumente ja keine jahrhundertelange, behutsame Erweiterung der Spieltechniken, sondern die zeitgenössischen Komponisten stürzten sich sogleich auf Geräusch-, Luft- und Spektralklänge. Am Ende kam so eher ein klingender Katalog heraus. Nur wenige Komponisten wie Ji Youn Doo oder Faida Chafta-Douka spielten wirklich mit Ton-Artikulationen oder verfolgten eine einmal gefundene Idee konsequent weiter, wie etwa Jacques Zafra mit seinen saftigen Spektralklängen in "Übergestern". Tobias Eduard Schicks Versuch einer Evolution der Klänge zu Beginn war zwar eine überzeugende Idee, das versuchten dann aber zu viele der folgenden Komponisten ebenfalls. Unbedingt zu loben ist die Intensität und Sorgfalt, mit der beide Musiker sich den neuen Stücken widmeten und fast schon liebevoll die Multiphonics und Schwebeklänge untersuchten. Erfreulich ist ebenfalls zu vermelden, dass sich für diese neuen Klänge ein großes, das Ganze aufmerksam verfolgendes Publikum einfand.

Das war auch am Mittwoch der Fall, wo allerdings der Bekanntheitsgrad des Ensembles Musikfabrik in Verbindung mit der Thematik von Comic und Film für Zuspruch gesorgt haben dürfte. Auch Katzenliebhaber dürften sich wohlgefühlt haben in der einzigartigen Performance - ging es doch um "Krazy Kat" - den legendären Comic des Amerikaners George Herriman, der in 3000 Variationen zwischen 1913 und 1944 die Geschichten der in den Mäuserich Ignatz verliebten Katze zeichnete - als Amorpfeil diente immer ein nach der Katze geworfener Stein. Das klingt nach einre simplen Story, doch Herriman stattete den Comic mit anarchischen und surrealen Elementen aus; Hintergrundsetting und Sprechblasen künden von einem experimentellen, avantgardistischen Zugang. In einer Filmdoku bekamen die Zuhörer zunächst die Geschichte des Comics und seines Schöpfers erzählt, dann ging es in den großen Saal des Festspielhauses, wo die Musikfabrik ein Gesamtkunstwerk als Tribut an "Krazy Kat" schuf.

Der englische Trickfilmkünstler Paul Barritt kreierte aus dem Comic elf neue Animationsfilme, ein Bühnenbild verband sich märchenhaft mit Ensemble und Leinwand und die Musiker waren singend, spielend und szenisch in die Geschichten eingebunden. Dafür eignete sich auch die Integration der Musik und der Instrumente des amerikanischen Klangtüftlers Harry Partch ideal - Schlagzeuger Matthias Meixner hatte für ein eigenes Partch-Projekt der Musikfabrik die großdimensionierten, faszinierenden Instrumente (etwa eine Bassmarimba, Flaschengongs oder "stehende Gitarren") nachgebaut - sie kamen jüngst beim Edinburgh Festival erstmalig zum Einsatz. Für die Hellerauer Performance wurden Partchs "Eleven Intrusions" integriert, elf Miniaturen für Stimme und - außergewöhnlich klingende - Instrumente, in der Indianermusiken, griechische Skalen und vor allem fremd und neuartig anmutende Klangfarben zu hören waren, die man nur assoziativ etwa mit dem asiatischen Raum aufgrund ihres Obertonspektrums zu verbinden mag. David Lang und Oscar Bettison steuerten weitere Kompositionen ("Hammerspace" bzw. "Animate Objects") zu dem Krazy-Kat-Erlebnis bei, ersterer mit minimalistischen, meist instrumental kammermusikalisch besetzten Klangbildern, letzterer mit das Stück umrahmenden, flächig-volltönenden Kompositionen, die sich wunderbar mit dem sich in geometrisch-fraktale Bilder auflösenden Comic verbanden. In der filmischen Umsetzung gab es eine neue Dimension: weniger waren da lustige kurze Strips zu sehen als vielmehr Katzen und Mäuse, die nach der Weltherrschaft griffen und am Ende sogar auf dem elektrischen Stuhl gerichtet wurden - damit wurden die Cartoons mit aktuellen Botschaften und Gesellschaftskritik aufgeladen, was allerdings gerade auf der visuellen Ebene zu stark inszeniert war.

Trotzdem ergaben alle Elemente ein großes Ganzes, man konnte zwischen Schauen, Hören, Staunen und Reflektieren perfekt hin und her "switchen" - am Ende stand auch die Erkenntnis, dass nicht eine Wiedererweckung oder Kopie der Herriman-Kunst erreicht werden sollte, sondern eine sinnlich-phantasievolle Neuschöpfung, die von ihren Erfindern vor allem musikalisch sehr eindrucksvoll umgesetzt wurde.
(23.10.)

Donnerstag, 23. Oktober 2014

Anmusizieren gegen Unfassbares

Helmut Oehring in der Reihe "Komponisten zum Frühstück" im Hygiene-Museum

Im Rahmen des Tonlagen-Festivals Hellerau finden in diesem Jahr auch wieder einige Kooperationsveranstaltungen statt. So konnte man am Sonntag im Dresdner Hygienemuseum einen "Komponisten zum Frühstück" genießen. Trotz aller surrealen Bemühungen in diesem Jahrgang: das Motto dieses Konzertes muss nicht wörtlich genommen werden, es gab lediglich Croissants und Kaffee. Wohl aber war ein Komponist zum Frühstück geladen, das spezielle Format wurde von "courage", dem Dresdner Ensemble für zeitgenössische Musik initiiert und fand - im erfreulich gut besuchten Marta-Fraenkel-Saal - bereits zum zweiten Mal statt, diesmal mit dem Berliner Komponisten Helmut Oehring.

Und wirklich: die lockere Atmosphäre eines Frühstücks verband nicht nur die Konzertbesucher, sondern konnte auch atmosphärisch die Trennung zwischen Bühne und Auditorium überwinden. Helmut Oehring und Wolfgang Lessing konnten im Gespräch mit die Zuhörer behutsam und gleichzeitig pointiert an die Musik heranführen. Oehring ist als hörendes und sprechendes Kind gehörloser Eltern aufgewachsen und kam erst im Alter von 25 Jahren als Autodidakt zum Schreiben von Musik, wurde dann Meisterschüler von Georg Katzer - im Gespräch benutzte er das Wort "Unselbstverständlichkeit" für diesen nicht geraden Weg von Ausbildung und Lernen innerhalb der Kunst.

Seine Musik ist wie kaum eine andere stark vom Spracherlebnis, von visuellen und akustischen Ereignissen geprägt, fast möchte man meinen, nach der "visuellen Muttersprache" der Gebärdensprache und der gesprochenen Sprache entdeckt Oehring auf dem Gebiet der Musik eine weitere, die er sich neugierig zu eigen macht - bescheiden klingt es, wenn Oehring selbst diesen Vorgang mit Worten wie "Transfer" oder "Klangfotograf" beschreibt. Wenn er sich dabei als Bekenntnismusiker sieht, drückt dies vor allem das künstlerische Müssen als "Einnehmen einer Haltung zu meiner Realität auf der Welt" ein. Dabei legt Oehring den Finger in die Wunden und benennt eine Kunsttradition von Eisler, Dessau oder auch Jimi Hendrix, in der auch der Rezipient Auseinandersetzungen fernab des Zurücklehnens zu führen hat.

In den musikalischen Beiträgen kam diese zur (Re-)Aktion herausfordernde Haltung gut heraus: "Leuchter" und "Melencoia I" boten mit Heine, Dürer und der Holocaust-Leugnung des Amerikaners Fred A. Leuchter jede Menge "harte Kost" - in beiden Stücken bahnt sich von Erschütterung getönte Sprache nur schwer einen Weg durch einen ganzen Scherbenhaufen von Gewalt und wörtlich zu nehmenden "Beats". Vertonung und Komposition erscheint hier als Verantwortung, aber auch Anmusizieren gegen Unfassbares. Eine ganz andere Musikwelt bietet "Mischwesen" (1998), eine Gemeinschaftskomposition mit Iris ter Schiphorst - das Poem "Silence" von Anne Sexton wird hier auf fast liebevolle Weise untersucht und stellt die Artikulation, das Mitteilen in verschiedenen Klanglichkeiten in den Vordergrund.

Hervorragend interpretierten Christina Schönfeld (Gebärdensolistin) und die Courage-Mitglieder - allen voran Antje Thierbach (Oboen), die in allen drei Stücken atemberaubende Präsenz und Nachvollzug der Intentionen zeigte - die Oehring-Kammermusiken, die vor allem die Existentialität künstlerischen Tuns verdeutlichten. Keinesfalls wurden da beim Kaffee die Elfenbeintürme betrachtet, sondern die Musik betraf uns direkt und vermochte auch betroffen zu machen und stark nachzuwirken.
(21.10.14)

Spagat auf dem Seil der Utopie

François Sarhans "Lâchez tout!" bei den Tonlagen Hellerau

Als "Film und Musikperformance" war die Abendveranstaltung am Freitag bei den TonLagen in Hellerau angekündigt. Doch fernab einer klaren Definition war es vor allem eines dieser Konzerte, nach denen man erst einmal sehr bewegt oder/und irritiert den Saal verläßt und versucht, das Gehörte und Gesehene zu verarbeiten. "Lâchez tout!" schrieb der französische Komponist François Sarhan 2013 - in Hellerau fand nun die deutsche Erstaufführung statt. Berücksichtigt man, was Sarhan alles zur Aufführung beisteuert, bekommt der Begriff Komponist ganz neue Dimensionen: in die Noten für das interpretierende "Red Note Ensemble" (mit Geige, Gitarre, Schlagzeug, Klarinette/Sax und Synthesizer) aus Glasgow sind Sprechpartien integriert, die den ebenso vom Komponisten produzierten Film begleiten, dazu agieren noch zwei Geräusch-Schauspieler.

Sarhan ist zudem Enzyklopädiker, Stop-Motion-Künstler, Schriftsteller und alles in allem wohl im besten Sinne ein Phantast, der sich mit "Lâchez tout!" einen kleinen, aber übervollen surrealen Kosmos erschaffen hat mit Figuren, die mittels Elixieren, aber auch Bomben irgendwie die Welt verbessern wollen und permanent an der Verbindung zwischen Innen und Außen, Realität und Fiktion scheitern. Bobok, der Protagonist des Films, wandelt mit monströsen Kopfhörern durch eine halbwegs reale Welt mit Arien schmetternden Bänkern (sic!), rückwärts fahrenden Autos, Escher-Treppenhäusern und Paternostern - er trägt dabei die Enzyklopädie unter dem Arm, deren Auslegung ihn kontinuierlich in Konfliktsituationen bringt.

Dadurch entsteht ein seltsam fragiler Humor, eine Weltkritik, die aber im fiktiven Rahmen verbleibt und in dieser Künstlichkeit poetische Züge hat. Sarhan könnte dieser Spagat auf dem Seil des Surreal-Utopischen gelingen, wenn nicht seine eigene Akribie dem ganzen Vorhaben mehrfach im Wege stehen würde, er aber am Ende auch die Übersicht über die Proportionen verliert. Zuviele Traditionen werden hier zitiert und bemüht, die zwar nicht absichtsvoll ineinanderpassen wollen, aber oft zu stark als Referenz wirken. Da lupfen Monty Python in den Stop-Motion-Teilen des Filmes ebenso den Hut wie andernorten Jacques Tati, André Breton oder Jean-Pierre Jeunet; Literatur (Sade) und Bildende Künste (der vollgestopfte Installationsraum des Künstlers Hans Langner etwa) werden ebenso liebevoll wie beiläufig eingeflochten.

Sarhan ist ein Candide der modernen Welt und scheitert ein wenig an seinen eigenen gehegten Traditionen - fast schon bieder wirkt die Filmszene, in welcher Sarhan seinen Quijote endlich zu seiner Dulcinea finden läßt, die sich in der Folge dann allerhand wild kostümierten Geistern und Schatten in einem tschechischen Bahnhofsgebäude stellen müssen. Geht es vielleicht doch um eine immer gleiche Geschichte, durch die Jahrhunderte mit wechselnden Mitteln der Zeit erzählt? Die Wecker-Lunten-Bombe im Handtäschchen löst schließlich das proportional etwas kurze und abrupte Ende mit einer Flut aus, die alles verschlingt. Sicherlich sind die vielen Widersprüche der Film-Musik-Performance insofern verständlich, da sie uns Sarhan als einen wachen Geist vorstellen, der uns dieses Satyrspiel zur Erbauung mitgibt - gerade aber in der Wirkung, um die ein Komponist nie verlegen sein sollte, war vor allem die stilistisch selten eine persönliche Handschrift oder auch eine Metaebene zeigende Musik, die in den Sprechgesangpassagen zu viele deskriptiven Anteile aufwies, zu schwach, als dass das Gesamtkonzept länger tragfähig gewesen wäre.
(20.10.14)

Starke Handschriften vom Nachwuchs

"Klassenarbeiten" mit dem Ensemble Recherche bei den Tonlagen Hellerau

Hefte raus, Klassenarbeit! Bei diesem Ausruf zuckt man innerlich kurz zusammen, wenn man nicht gar der ganz große Streber in der Schule war. "Klassenarbeit" als Titel für ein Konzert mit Werken von Kompositionsstudenten öffnet allerdings den Assoziationsraum. Hier geht es nicht um eine zu bewertende Abfrage von Wissen, eher um die Abbildung des Spektrums einer Kompositionsklasse - der Konzertzeitpunkt spitzt die oft über einen langen Zeitraum wirkende musikalisch-stilistische Entwicklung der Studenten auf ein klingendes Ereignis zu.

Also doch eine Klassenarbeit im Wortsinne - deren zählbare Bestandsaufnahme dem Rezensenten verbleibt: 12 Komponisten aus vier verschiedenen Hochschulen in Helsinki, Stockholm, Bern und Dresden, in zwei Konzerten von neun Musikern gespielt, die ihrerseits seit 29 Jahren zusammenspielen und gut 600 Uraufführungen bestritten haben - damit ist das Projekt "Klassenarbeit" des Ensemble Recherche beim Tonlagen-Festival Hellerau zumindest zahlenmäßig beschrieben. Hinterfragen wollten sich die Initiatoren auch selbst - neben der unschätzbaren Möglichkeit, dass die Studenten über einen längeren Zeitraum intensiv für und mit dem renommierten Ensemble zusammenarbeiten konnten, wurde die Frage gestellt, wie im jeweiligen Kämmerchen der Hochschule gearbeitet wird und ob es zwischen den einzelnen Klassen ästhetische Gemeinsamkeiten oder Unterschiede gibt.

Letztlich gelang so ein hervorragender Einblick in das Laboratorium der aktuell entstehenden zeitgenössischen Musik und die Antwort kann gleich gegeben werden: die Musik war so vielfältig und individuell wie die Menschen, die sie geschrieben haben eben auch ihre persönlichen, kulturellen Einflüsse mitbrachten. Eine Zahl muss ergänzt werden, nämlich ausgerechnet die Null als Anzahl der im zweiten Konzert am Donnerstag vorliegenden Werkeinführungen. Somit kann nur im freien Assoziationsraum spekuliert werden, worauf es den Komponisten in den einzelnen Stücken ankam. Sicher erscheint, dass die sechs Darbietungen allesamt starke Handschriften aufwiesen und zum Hinhören zwangen.

Von Joe Lake (Dresden) hörte man eingangs eine schöne Studie in leisesten Dynamikbereichen, wobei präpariertes Klavier und Schlagzeug fast zu einem einzigen glockenartigen Instrument verschmolzen. Deokvin Lee (Dresden) wartete in "Prufrock" für großes Ensemble mit einem recht steinigen Kompositionsweg auf - das sehr lange Werk verschleuderte einiges an Material, ließ eine wirklich "rockige" Phase erkennen, aber keine wirkliche Zielrichtung. Nicolas von Ritter (Bern) hatte sich für eine Streichtriobesetzung entschieden - "Light and Fog" fand zu einer interessanten Sprache fortschreitender Bewegung mit einer Art Selbstverlust des Stückes am Ende. Rosalie Grankull (Stockholm) konfrontierte eine saftige Pulsation mit zerbrechlicher Harmonie im Wortsinne - das war ebenso mutig wie überzeugend. Bei Sebastian Hillis (Helsinki) "Hypha" standen sehr klar formulierte Abläufe und Algorithmen im Vordergrund, hier fehlte aber eine sinnliche Ebene fernab der mit zahlreicher Ornamentik ausgestatten "Aufstiegsarbeit" der Tonhöhen.

Anthony Tan (Dresden) blieb der Schluss vorbehalten: "Observing the Ph(r)ase" war ein sehr schönes Stück mit viel Binnen(be)handlung, das unterschiedliche Zustände musikalischer Dichte beleuchtete. Schlicht faszinierend war es, dem Ensemble Recherche bei der Formung dieser musikalischen Welten zuzusehen und zuzuhören - für einen solchen Ensembleklang und Nachvollzug der Ideen und Ansprüche wird auch jeder der gespielten Komponisten höchst dankbar sein.
(18.10.14)

Wie klingt China?

Eröffnung des Tonlagen-Festivals in Hellerau

Ein "universelles Klang-Environment" sei in diesem Jahr zu begehen und akustisch wie visuell wahrzunehmen - so kündigten die Veranstalter, das Europäische Zentrum der Künste Hellerau, einen Schwerpunkt des gestern eröffneten Tonlagen-Festival an. Einfacher gesagt: es geht in dieser Ausgabe um Klang und Klanglichkeit, um neue Instrumente, Klangkombinationen und auch vermehrt um Installationen, die ja bisher in Hellerau eher als Randerscheinung wahrgenommen wurden.

Dem universellen Anspruch darf man gerade in Hellerau durchaus Vertrauen schenken, denn Künstler aus mehr als 19 Nationen sind beteiligt. Das Festival wird mit Sicherheit bunt und interdisziplinär und in der Fülle der präsentierten künstlerischen Aussagen und Stile ist Kontroversität schon fast eine erwünschte Ausgangslage. Der Start wurde mit einem Blick gen Osten vollzogen - dieser bildet ebenfalls einen Schwerpunkt im diesjährigen Programm. Mit "China Sounds" wurden vier verschiedene sinfonische Blicke auf und aus China vom MDR Sinfonieorchester unter Leitung von Kristjan Järvi vorgestellt. Intendant Dieter Jaenicke und Bürgermeister Jörn Marx zeigten sich zuvor in ihren Eröffnungsreden gespannt auf das Festivalprogramm und hoben deutlich hervor, dass Kunst eben auch den Nerv treffe, weh tun müsse und zu vielfältiger Auseinandersetzung reize.

Ein nachhaltiges Kunsterlebnis stellte sich beim folgenden musikalischen Exkurs allerdings eher als schwierig herzustellen dar, so sehr man auch einen distanzierten Blick auf die China-Experimente bemühte. Werken eines finnischen und eines amerikanischen Komponisten, die im Rahmen eines Programms des "National Centre for the Performing Arts" in Peking weilten und ihre Eindrücke in ihren Werken 2013 zusammenfassten, wurden zwei chinesische Preisträger eines Kompositionswettbewerbs des gleichen Institutes gegenübergestellt.

Was der Amerikaner Michael Gordon in "Beijing Harmony" unternahm, war nurmehr eine platte Echo-Studie im Minimal-Sound, der nur die verbalen Bekundungen des Komponisten zu einer Beziehung zur Tempelarchitektur in Peking verhalfen. Die chinesischen Kompositionen von Xiao Ying ("The Cloud on the wishful Side" - mit Dong Ya, Pipa und Klaudia Zeiner, Mezzosopran) und Ye Yanchen ("The Morning of Bita Lake") waren farbiger ausgestaltet, als klangliches Resümee nahm man mit, dass diese beiden Komponisten in ihren Partituren sowohl wild in der westlichen Musikgeschichte wuchern als auch sich thematisch sehr von naturalistischen, einfachen Tableaus als Grundlage für die Musik leiten lassen. Für die Beschreibung von Nebel und tanzendem Regen gibt es in den letzten Jahren etliche sinfonische Beispiele aus Fernost, die aber allesamt in ihre neoromantischen Stilistik recht austauschbar scheinen.

Am Ende des Konzertes gab es aber doch eine Überraschung: der Finne Kalevi Aho schuf mit der Komposition "Gejia - Chinese Images" ein opulentes, komplexeres Klanggemälde, das virtuos mit westlichen und östlichen Materialien spielte und konsequent damit eine neue, fiktionale Ebene schuf. Kristjan Järvi und sein mittlerweile in der universellen musikalischen Neugier extrem geschultes MDR-Sinfonieorchester waren für diese ungewohnten und dann teilweise eben doch sehr gewöhnlichen Klänge außerordentlich konzentrierte und auch in vielen schön ausgeführten solistischen Passagen begeisterte Sachwalter und empfingen von den vollbesetzten Rängen starken Applaus.
(17.10.14)

Mozart, Dresden und die "Italianità"

Giuliano Carmignola und die Dresdner Philharmonie in der Frauenkirche

Attribute für einen Künstler sind oft unzureichend oder plakativ - aber was soll man machen, wenn einem angesichts eines fabelhaften Konzertes das Wort "Teufelsgeiger" auf der Zunge liegt? Natürlich denken alle an den großen Virtuosen Niccolò Paganini, doch auch heute gibt es legitime Nachfahren, die mit ihrem Geigenspiel die ganze Welt verzaubern. Dass es dabei manchmal mehr auf Frisuren und eine perfekte PR-Maschinerie ankommt, ist wohl der Geist unserer Zeit. Doch es gibt gottlob noch einige Künstler, die sich - mit einem begnadeten Talent versehen - so sehr der Musik verschrieben haben, dass sie dies gar nicht nötig haben.

Dazu gehört Giuliano Carmignola, der in den letzten Jahrzehnten vor allem mit die Solokonzerte des Barock, der Wiener Klassik und der Sturm-und-Drang-Zeit mit frischen, historisch informierten Interpretationen und einem unwiderstehlichen klanglichen Zugriff aufgeführt und auch eingespielt hat. Für die Dresdner Philharmonie ist die Zusammenarbeit mit solch einem Künstler ein Glücksfall, nicht nur weil sie einmal andere Musik als das meist das 19. und 20. Jahrhundert bevorzugende Repertoire der Orchesterliteratur spielen dürfen, sondern weil Carmignola - als Solist und Leiter des Konzertes am Freitag - ein "spiritus rector" im Wortsinne ist.

Im Programm gingen drei barocke Handschriften einem Violinkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart voraus - es war spannend wahrzunehmen, wie auf diese Weise das Mozart-Konzert in den Kontext der Musikgeschichte eingebettet wurde, es durchaus auch "italienisch" wahrgenommen werden durfte. Die Dresdner "Italianità" war ebenfalls im Konzert vertreten: Antonio Vivaldis Ehrerbietung an die Dresdner Hofkapelle, das "Concerto per l'orchestra di Dresda" g-Moll, eröffnete das Konzert schwungvoll und eine Sinfonia in derselben Tonart von Johann Adolph Hasse war gleichsam die Dresdner Antwort darauf. Auch das Konzert d-Moll für Violine, zwei Hörner und basso continuo von Carl Philipp Emanuel passte gut in diese Umgebung, bildete es doch mit seinem empfindsamen Stil eine Brücke zu Mozart.

Die Interpretationen waren mitreißend: in allen Werken ging es um weitaus mehr als bloße Tempoabsprachen und Grundphrasierungen. Der ganze Organismus Orchester - in der kleinen Besetzung natürlich auch viel filigraner und daher sehr um farbiges Spiel bemüht - fing unter Carmignolas Leitung an gehörig Leben zu versprühen, und man konnte mitverfolgen, wie solch eine musikalische "Arbeit" binnen siebzig Minuten Konzertdauer die Protagonisten außerordentlich zusammenschweißt. Carmignola selbst faszinierte mit einem forschen, manchmal gar garstigen Ton, der aber niemals Grenzen überschritt und selbst in rasanten Passagen noch Schlankheit und edlen Klang aufwies - das begeisterte die Zuhörer derart, dass eine Zugabe unumgänglich war.
(28.9.14)

Donnerstag, 25. September 2014

Spätromantische Leidenschaft

Saisoneröffnung der Dresdner Philharmonie im Albertinum

Saisoneröffnung! Den freudigen Ruf durfte man im September schon einige Male in Dresden vernehmen, allein die Dresdner Philharmonie hatte es zunächst in ferne Länder verschlagen: eine zweiwöchige Südamerikatournee wurde gerade beendet. Letzte Woche stand zudem die Grundsteinlegung für den neuen Konzertsaal im Kulturpalast an. Letzteres mag als "Anfang vom Ende" der Reisetätigkeit des Orchesters hoffnungsvoll stimmen und Chefdirigent Michael Sanderling war es daher auch ein Anliegen, zum Saisoneröffnungskonzert im Albertinum persönlich dem Publikum für seine Treue zu danken.

Programmatisch begann die Dresdner Philharmonie mit spätromantischer Musik und einmal mehr mit Jubilar Richard Strauss. Im ersten Teil des Konzertes stellte sich der neue "Artist in Residence", der Pianist Martin Helmchen vor, der bereits mehrfach mit der Dresdner Philharmonie konzertierte und in dieser Saison Konzerte von Brahms und Prokofjew sowie Kammermusik spielen wird. Sein Residenz-Debüt gab er am Sonnabend mit Peter Tschaikowskys 2. Klavierkonzert G-Dur, einem energiegeladenen und im Vergleich zum bekannteren Vorgänger in b-Moll durchaus epischeren Werk.

Über die gewählte, konzertübliche Fassung von Tschaikowskys Schüler Alexander Siloti darf man geteilter Meinung sein, geben die starken Kürzungen im 1. und 2. Satz doch sicher nicht des Komponisten Willen wider. Bis auf wenige Wackler zu Beginn des 1. Satzes, die damit zu tun hatten, dass Helmchen gleich von den ersten Takten an "aufs Ganze" ging, war das eine spritzige und emotionale, aber auch umwerfend präzise Interpretation. Keine spätromantische Überhitzung machte sich breit, und doch konnte man sich beim Hören sehr sicher sein, dass Helmchen viel Klangsinn für die verschiedenen Themen und virtuosen Passagen bewies. Besonders beeindruckend war die Übersicht, mit der Helmchen weitläufigere Wegstrecken im Stück zurücklegte - gleich in den ersten Takten jeder Phrase war das Ziel vorformuliert erkennbar. Die in der Partitur angelegte Extrovertiertheit der Musik setzte Helmchen mit einer Menge Spielfreude um, was bei diesem technisch anspruchsvollen Stück keineswegs selbstverständlich ist. Weitgehend einig waren sich Solist und Orchester im gemeinsamen Spiel, lediglich im 1. Satz fiel auf, dass Helmchen eine prägnantere Agogik bevorzugte, während das Orchester in den Streichern zu breiterer und weicherer Gestaltung neigte.

Nach der Pause hatte Witold Lutoslawskis "Kleine Suite", eine noch in mäßig moderner Tonsprache angelegte "Gelegenheitsmusik", einen etwas schweren Stand zwischen den wuchtigen Rahmenwerken, bildete aber einen reizvollen Kontrast und forderte vor allem rhythmische Energie von den Musikern, die Michael Sanderling auch problemlos freisetzte. Richard Strauss' Tondichtung "Also sprach Zarathustra" bleibt ein irritierend-faszinierendes musikalisches Bilderbuch von der Freiheit der Kunst und philosophischen Anwandlungen über Mensch, Natur und Glaube - zumindest die ersten 22 Takte taugten auch für Bierwerbung und als Trailer für diverse Filme und Bands. Dabei gibt es gerade jenseits dieser ersten Partiturseiten viel zu entdecken. Michael Sanderling stellte vor allem ein leidenschaftliches Musizieren in den Vordergrund der Interpretation, sorgte für einen volltönenden Sound und viel, manchmal zuviel Lebendigkeit: einige vorbeistürmende Passagen konnten (das betraf auch einige der Streicher-Soli im Grablied und Walzer) nicht mehr allzuviel Innenleben entfalten. Dafür schlug die Mitternachtsglocke wuchtig an, die Bläserhomogenität im Tutti konnte man nur bestaunen und der ruhige Ausklang gelang im silbrigen H-Dur-Register vortrefflich.

Deutliche Worte, klare Töne

Gidon Kremer und die Kremerata Baltica mit "Mein Russland" in der Semperoper

"All about Gidon" - das Konzert der Kremerata Baltica in der Semperoper hätte eigentlich eine klingende Biografie des großen Geigers Gidon Kremers, seit Beginn dieser Saison Capell-Virtuos der Sächsischen Staatskapelle Dresden, werden sollen. Doch angesichts der aktuellen dramatischen Lage des Russland-Ukraine-Konfliktes änderte Kremer das Programm und stellte das Motto "Mein Russland" voran. Es blieb dennoch ein "All about Gidon" in der Hinsicht, dass Kremer ein Musiker ist, der sich nicht in den Elfenbeinturm der Partituren und Töne einschließt, sondern seismographisch auch die Welt, in der er und wir alle leben, aufnimmt.

Schweigen ist seine Sache nicht, denn "wenn wir wegschauen, sind wir bereits mit dem Gewissen beteiligt." Mit Tönen auf das Grauen antworten - geht das? Der Abend in der Semperoper bewies, dass Kultur und erst recht die Musik eine Sprache zu sprechen imstande ist, in der zumindest ein Bewusstsein und eine Sensibilisierung entstehen kann. Mit den Tönen kann sich jeder persönlich auseinandersetzen, sich nah oder mit Distanz positionieren und überlegen, was die bessere Variante ist: "falsche Töne" gibt es in der Musik nicht, so Kremer - man spiele jede Musik mit authentischem Anspruch. Das sei in der Politik mit ihren Floskeln leider anders.

Eine Gesprächsrunde war in das Konzert integriert, in der Gidon Kremer sein Herzensanliegen unterstrich: "Kunst hat die Aufgabe, uns von der Gleichgültigkeit, die wir über die Massenmedien und durch Entertainment entwickelt haben, abzuwerben." Kremer ist baltischer Herkunft, hat aber prägende Jahre seines Lebens in Moskau verbracht. Mit dem Konzertprogramm wolle er die schwermütige, nachdenkliche, auch ethische Seite von Russland vorstellen. Als im Gespräch der Satz fiel "Es gibt keinen Weg, aber wir müssen ihn gehen." wurde offensichtlich, dass es keiner weiteren Worte bedurfte, dass die vorgestellte Musik am Ende stärker war, wo sich im Gespräch eine erschütterte Sprachlosigkeit anbahnte. "In der Musik ist kein Haß", konstatierte Kremer und trotz aller stilistischen und thematischen Unterschiede und der unterschiedlichen Wurzeln der Komponisten konnten die vier vorgestellten Werke auch in friedlicher Koexistenz bestehen und gegenseitige Bereicherung erfahren.

Ein Werk der aktuellen Capell-Compositrice Sofia Gubaidulina eröffnete den Abend und schärfte gleich die Konzentration: ihre Reflexionen über "B-A-C-H" sorgten in kompromissloser Reduktion des Materials für eine Klarheit des Geistes, mit dem man erst einmal aufnahmefähig wurde. Der Komponist Leonid Desyatnikov ist Ukrainer und lebt in St. Petersburg - seine "Russischen Jahreszeiten" für Sopran, Violine und Streichorchester sind ein faszinierendes Konglomerat aus Volksmusik, geistlichem Melos und bildhafter Zeichnung ursprünglicher Gefühle und Stimmungen - von Kremer, der Sopranistin Olesya Petrova und der Kremerata Baltica wurde das intensivst ausgekostet.

Mieczyslaw Weinberg (1919-96) ist ein erst in den letzten Jahren wiederentdeckter russischer Komponist mit polnischen Wurzeln - seine späte 2. Kammersinfonie beeindruckt durch eine tiefernste Haltung, die sich nur ab und an zu einem freundlichen Lächeln oder untergründigem Humor lichtet. Kremer, zuvor noch solistisch aktiv, übernahm hier das Konzertmeisterpult - sein Orchester zeigte hier wie in allen Werken des Abends einen packenden Zugriff bis hin in die hintersten Geigenpulte. Klanglich verstehen sich diese Musiker blendend und die Führung durch Gidon Kremer ist ebenso konzentriert wie kreativ-spontan.

Dass Russland einen besonderen Sinn für Humor und Satire hat, zeigte das letzte Werk des Abends, das etwa in der Tradition der "bissigen" Werke Dmitri Schostakowitschs oder Alfred Schnittkes steht: mit unverhohlenem Spaß nimmt Alexander Raskatov in "The Seasons' Digest" Peter Tschaikowskys Klavierzyklus "Die Jahreszeiten" auseinander, ohne dabei den Respekt zu verlieren: da wird getanzt, gejohlt, gepfiffen und über Väterchen Frost geklagt, dass es eine Wonne ist; die russische Seele bleibt dabei authentisch, selbst wenn sie über die Stränge schlägt. Den großen Jubel des Publikums beantworteten Kremer und die Kremerata Baltica mit einem echten "Rausschmeißer", wiederum von Mieczyslaw Weinbergs. Von ihm wird noch viel zu hören sein. Und Gidon Kremers Konzert in der Semperoper hat deutlich gezeigt: es tut gut, wenn auch der klassische Musikbetrieb sich nicht in Selbstrotation des ewig gleichen Repertoires erschöpft. Wir brauchen die Auseinandersetzung mit Musik, mit Kunst dringender denn je.
(20.9.)

Sonntag, 7. September 2014

Himmlische Höhen

Gubaidulina und Bruckner im 1. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle

Am letzten Tag der Sommerferien, am sächsischen Wahlsonntag und letzten Augusttag, und damit kurz vor dem meteorologischen Herbstbeginn hat die Sächsische Staatskapelle ihre neue Saison mit dem 1. Sinfoniekonzert eröffnet. Atmosphärisch konnte also in den Gedanken beim Konzertbesuch Vergangenheit und Zukunft, das "Alte" und das "Neue" mitschwingen und das Programm war sehr dazu geeignet, sich damit eingehender zu beschäftigen.

Mit dem 2. Violinkonzert "In Tempus Praesens" der neuen Capell-Compositrice Sofia Gubaidulina gelang ein nachdenklicher, höchst eindrücklicher Einstieg in die Saison. In den vergangenen Jahren wurden viele ihrer Werke von den Dresdner Orchestern oder etwa beim Moritzburg Festival gespielt. Die bei Hamburg lebende russische Komponistin dürfte es als besondere Auszeichnung empfinden, dass die Sächsische Staatskapelle sie in dieser Spielzeit besonders würdigt, auch zwei neue Kompositionen werden in Kapellkonzerten uraufgeführt werden.

Vor allem aber erklingen ihre beiden Violinkonzerte mit dem Capell-Virtuosen Gidon Kremer, der 1981 schon der uraufführende Solist ihres 1. Violinkonzertes "Offertorium" war. Ihr zweites Konzert "In Tempus Praesens" - geschrieben 2006/2007 für die Geigerin Anne-Sophie Mutter - trägt die Gegenwart bereits im Titel; das Jetzt-Erleben und Fühlen (musikalischer) Zustände ist nicht eine etwa als ironische Floskel auf zeitgenössische Musik gemeint, sondern ein ernstzunehmender Anspruch und gleichzeitig das Glücksgefühl einer Komponistin: heute arbeiten zu dürfen, heute neue Klänge zu erfinden und zu schreiben und damit an der musikalischen Gegenwart teilzuhaben. Gubaidulinas Musik verortet sich fern von einem rein absoluten Anspruch, ständig ist man versucht zu sagen, dass ihre Noten in starker Weise zum Zuhörer sprechen.

Beredte Monologe, Dialoge, "Stimmen" durchdringen sich in diesem halbstündigen großen Konzertsatz und formen ein eindrucksvolles Klanggemälde, dem man sich nach den ersten von Gidon Kremer alleine vorgetragenen Tönen nicht mehr entziehen mag. Unter der Leitung von Christian Thielemann gerieten die sorgsam proportionierten Teile des Werkes ausbalanciert, wurden Kremers sich immer wieder in fast himmlische Höhen aufschwingende Linien gut in einen doch großen Orchesterapparat eingebettet. Vor allem die bis in kleinste Details auskomponierten Farbschattierungen in kammermusikalischen Abschnitten waren spannend zu verfolgen - dem bedrohlich-maschinellen Abgrund vor der von Kremer intensiv ausgeformten Kadenz folgte eine Art lichter Abgesang, der in seinem plötzlichen Dur-Schimmer wie ein Lobgesang auf die Sprache der Musik wirkte. Sofia Gubaidulina, Gidon Kremer, Christian Thielemann und die Staatskapelle nahmen einen großen und sehr herzlichen Applaus für dieses beeindruckende Stück entgegen.

Eine "Gegenwartsmusik" ganz anderer Art - und doch höchst plausibel mit dem ersten Stück verbunden - war nach der Pause Anton Bruckners 9. Sinfonie d-Moll, oft bereits als "jenseitig" beschrieben und doch mit ganz irdisch singenden Klängen, Melancholie und Weltgewitter versehen. Will man interpretatorisch auf dieses große Werk "antworten", ist ein Scheitern fast vorprogrammiert - man tut am besten daran, diese Musik sprechen zu lassen, und genau dies konnte man bei der Staatskapelle auch in wunderbarer Weise erleben: Thielemann arbeitete in leisen, lyrischen Teilen die leicht fragile, kantable Atmosphäre heraus.

Der erste Satz war klanglich sogar beinahe zu ordentlich-klassisch angelegt, damit gelang aber auch eine Art innerer musikalischer Rückblick, der in den nächsten beiden Sätzen nicht mehr möglich erscheint. Große Tutti entfalteten sich unter Thielemanns Händen eher selbstverständlich - dem bizarren Scherzo gab er kraftvolle Impulse hinzu, um im Trio einen größtmöglichen charakterlichen Kontrast herzustellen. Sehr beeindruckend gelang der große, letzte Satz des Werkes mit seinen immer neuen thematischen Anläufen und einem wirklich nicht mehr irdisch zu fassenden Höhepunkt kurz vor einem sanften Ausklingen, dem eine sehr notwendige, spannungsvolle Stille folgte.
(1.9.)

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