Rezensionen

Sonntag, 25. Januar 2015

Unter Strom

5. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle mit Arkadi Volodos und Daniele Gatti

Die TU Dresden besitzt eine Hochspannungshalle, ein bustäblich "spannender" Ort für Experimente und Forschung. Dass Dresden eine zweite Hochspannungshalle besitzt, war mir bislang nicht
bewusst, am Freitag aber zeigte die Sächsische Staatskapelle Dresden mit zwei energetisch agierenden Gästen, dass man auch ein altehrwürdiges Opernhaus buchstäblich unter Strom setzen kann. Das 5. Sinfoniekonzert wies programmatisch nach Russland: Mit dem 1. Klavierkonzert b-Moll von Peter Tschaikowsky und der 10. Sinfonie e-Moll von Dmitri Schostakowitsch erklangen zwei Werke, deren besondere, zuweilen extreme Gefühlslage kaum zum Zurücklehnen auffordert.

Insofern war es ein Glücksfall, dass mit Arcadi Volodos am Klavier und Daniele Gatti am Dirigentenpult zwei Künstler zur Verfügung standen, die sich den Werken nicht in distanziert-partiturhuldigender Dokumentation näherten, sondern komplett in die emotionalen Wechselbäder einzudringen vermochten. Volodos Interpretation widersprach deutlich der üblichen Praxis, dieses Konzert auf die Einleitungstakte reduzierend in die "Best of Klassik"-Schublade zu sortieren. Kraftvoll und oft überraschend war sein Zugang zu den Solopassagen - wenn Volodos bei Orchesterzwischenspielen lässig die Hände verschränkte und fast regungslos dem Orchester lauschte, durfte man sich sicher sein, dass innerlich schon die Energie für die nächste Passage kurz vor der Entladung stand.

Auf kraftvollen Klangrausch und genüsslich ausgestellte Virtuosität allein beschränken sich Volodos Qualitäten jedoch nicht - was war das bitte für eine wunderbar atmend-selige Pianokultur, die Volodos im zweiten Satz verströmen ließ? Die Anschlagsbandbreite dieses Pianisten ist ohnehin staunenswert, man meint im dritten Satz ein für ihn charakteristisches Staccato zu vernehmen, dass in dieser Würze kaum ein anderer Pianist so beherrscht und konsequent zelebriert. Der Mailänder Dirigent Daniele Gatti, designierter Chefdirigent des Concertgebouworkest Amsterdam, begleitete mit der Staatskapelle aufmerksam und nahm die Hochspannung mit - wenige Wackler waren da zu verschmerzen, denn hier stand Energie und Tiefe der Ausgestaltung im Vordergrund.

In kompromissloser Emotionalität führte Dmitri Schostakowitsch den Stift bei seiner 10. Sinfonie - Daniele Gatti gewährte den Zuhörern in puncto Ausdrucksvielfalt keinerlei Schonung und musizierte gar in akustisch deutlich zu vernehmenden Arbeitsgeräuschen in den Steigerungen des 1. Satzes mit. Dabei verlor er nie die Übersicht über die immensen Bögen der Sinfonie und behielt auch in der wüsten Gewalt des "Stalin-Satzes" jederzeit die Kontrolle und setzte dabei messerscharfe Akzente. Gespenstisch zog dann der 3. Satz mit Hornsignalen und skurriler Walzer-Welt vorüber. Höhepunkte dieser tollen Interpretation waren nicht nur die großartig ausmusizierten Tutti-Passagen, sondern vor allem die empfundenen Holzbläser-Soli zu Beginn des Finalsatzes. Wo Schostakowitsch eine einzelne Stimme sprechen läßt, gaben sich die Musiker der Kapelle mit ganzem Können hin - und diese Musik traf bis ins Mark.

Neue Musik in allen Facetten

Das KlangNetz Dresden startet in ein üppig gefülltes Konzertjahr 2015

Gäbe es einen Seismographen, der die Klangwellen zeitgenössischer Musik an einem bestimmten Ort aufzeichnen würde, so hätte das Messgerät 2014 kontinuierlich deutliche Ausschläge über das ganze Jahr hinweg an verschiedenen Orten in Dresden verzeichnet. Das "KlangNetz Dresden", der Netzwerkverbund Dresdner Ensembles und Kulturschaffender, setzt sich seit zwei Jahren als eingetragener Verein für die Koordination, und Veranstaltung von Konzerten mit zeitgenössischer Musik ein. Was da allein im vergangenen Jahr auf die Beine gestellt wurde, konnte sich sehen und hören lassen: in 46 eigenen oder in Kooperation durchgeführten Veranstaltungen - dazu zählen auch Einführungen oder Workshops - lockte das KlangNetz 3550 Besucher an.

Zieht man das Netz weitmaschiger zu den Partnerinstitutionen wie Semperoper und Philharmonie, dürften es noch weit mehr Zuhörer gewesen sein. Dabei regierte im vergangenen Jahr vor allem die Vielfalt - von Spektralmusik über Kammerkonzerte bis hin zu Workshops etwa mit dem Komponisten Wolfgang Rihm reichte die Bandbreite. Als Höhepunkte der Konzertaktivitäten, so der Leiter von KlangNetz Dresden Jörn Peter Hiekel, ist das Schulvermittlungsprojekt "A-S-S-E-M-B-L-E!" und die eigene, über das ganze Jahr von verschiedenen Ensembles in immer neuen Aspekten beleuchtete Reihe "Einstürzende Mauern" anläßlich des 25. Jahrestages des Mauerfalls zu nennen.

Die Vermittlungsarbeit steht auch weiterhin als wichtiges Element auf der Agenda; moderierte Konzerte, Schul- und Komponierprojekte sollen die zeitgenössische Musik nicht nur verständlich, sondern interaktiv erlebbar machen. Auch die Idee der eigenen Konzertreihe wird 2015 fortgeführt. In diesem Jahr heißt das Thema der Reihe, die in den Sälen des Kooperationspartners Hygiene-Museum stattfindet, "Freundschaften" und startet am 21. Mai mit einem ungewöhnlichen Abend mit zeitgenössischer Musik und Tango - als verbindendes Element wird dabei Luis Buñuels berühmter Film "Un Chien Andalou" dienen, ganz neue Kompositionen werden Boris Bell und Eric Egan an diesem Abend beisteuern. Wie aus Freundschaften Musik entsteht, wie Zwischenmenschliches Niederschlag in der Kunst findet oder eben auch freundschaftliche Beziehungen in Tönen und Klängen gestaltbar sind, dem wird sich diese Reihe in mehreren Konzerten widmen - ein jedes mit mindestens einer Uraufführung.

Mit dem üppigen Konzertjahr 2015 (die Homepage verzeichnet bereits jetzt gut 40 Termine bis zur Jahresmitte) startet das KlangNetz Dresden übrigens schon in dieser Woche: eine "besondere Farbe", so Hiekel, wird der dänische Komponist Simon Steen-Andersen mitbringen, der an der Dresdner Musikhochschule unter anderem zu einem Workshop und einem von Dresdner Studenten gestalteten Porträtkonzert gastiert. Steen-Andersen gilt als kreativer Soundkünstler mit einem heterogen zu nennenden OEuvre, das sich den Genres Film und Populärmusik öffnet und in Collagen oder mit installativen Elementen neue Bedeutungsebenen schafft. Als "Manipulator" oder Live-Installateur wird Steen-Andersen auch im Konzert als Interpret seiner Stücke zu erleben sein.

Neben der Fortführung bereits bekannter Konzertformate wie dem "Short Concert" an der Musikhochschule oder der "Ersten Anhörung", die die Dresdner Philharmonie mit Kompositionsstudenten durchführt, ist ein Highlight der ersten Jahreshälfte auch die Begegnung mit der Capell-Compositrice Sofia Gubaidulina, die anläßlich ihrer Kapell-Uraufführung auch einen Workshop an der Hochschule gibt. Existenziell und intensiv nachwirkend sind Gubaidulinas Kammermusikkompositionen - diese gibt es dann in einem KlangNetz-Gesprächskonzert am 16. April zu hören.

Ausgewählte Konzerte KlangNetz Dresden
* 28. Januar, 18. März, 22. April "Short Concerts" an der Musikhochschule
* 15./16. April, Sofia Gubaidulina zu Gast an der Musikhochschule Dresden
* 21. Mai, Hygienemuseum, Liebschaften – Neue Musik und Tango
Eröffnungskonzert der Reihe „Freundschaften“ von KlangNetz Dresden mit dem Ensemble "El Perro Andaluz"

Dienstag, 30. Dezember 2014

In behaglicher Grundstimmung

Weihnachtskonzert der Dresdner Philharmonie mit Werken von Strauss und Tschaikowsky

Was die kulinarischen Genüsse angeht, dürfte Einigkeit herrschen: es mag zwar Abwandlungen in den Rezepten und manche Kreativität im Detail geben, aber zwischen Braten, Gans und Kartoffelsalat bleibt die Konstante: festlich soll es sein, und munden soll es wie jedes Jahr. In der Weihnachtszeit werden selten Traditionen auf den Kopf gestellt, das gilt auch für die musikalischen Gewohnheiten. Bleibt man beim kulinarischen Vergleich, so stellt sich die Rezeptvielfalt der Dresdner Philharmonie im Weihnachtskonzert am 1. Feiertag zwar erfreulich dar, die durch die Werkauswahl über dem ganzen Abend schwebende Behaglichkeit war dann doch für denjenigen zu präsent, der im Konzert nach Abwechslung und Anspruch suchte.

Denn mit Sicherheit ist Richard Strauss' Orchestersuite nach Molière "Der Bürger als Edelmann" eben nicht eines seiner fortschrittlichsten Werke, zudem gerät man beim Hören innerlich in den Konflikt, zwischen der Gegenwart der Aufführung, der Zeit der Entstehung (1918) und der Bezugnahme auf das 17. Jahrhundert umherzuirren - und das bei einem heutzutage kaum vom Sessel reißenden Sujet, an dem sich Strauss selbst eher museal abarbeitete. Trotzdem gelang der Philharmonie dank der umsichtig-liebevollen Leitung durch Chefdirigent Michael Sanderling eine gute Darbietung im von Strauss kammermusikalisch ausgereizten Ensemble. Auch die solistischen Parts von Geige (Heike Janicke) und Cello (Ulf Prelle) waren sorgsam ausgeführt, so dass man sich durchweg am Schönklang weiden konnte.

Der zweite Teil des Konzertes war Werken von Peter Tschaikowsky gewidmet: mit der Onegin-Polonaise, den Rokoko-Variationen und der Fantasie-Ouvertüre "Romeo und Julia" wagte man sich auch hier in nicht allzu schwere Dimensionen - verglichen etwa mit den Zuspitzungen von Berlioz und Prokofjew positioniert Tschaikowsky das Shakespeare-Drama in eine eher märchenhafte Klangumgebung - zu sehr rüttelten da auch die Forderungen der an einer nationalen Musik bastelnden Gruppe des "Mächtigen Häufleins" um Balakirew an Tschaikowskys Kreativität. Sei's drum, an Weihnachten darf man sich auch mal im Klang baden: Michael Sanderling sorgte für einen satt-voluminösen Streicherklang und legte fast ein bißchen zu forsche Dramatik in die schnellen Passagen. Auf diese Weise gelang aber wiederum ein guter Kontrast zu den schön ausgehörten Bläserthemen des Beginns.

Der Höhepunkt des Konzertes war zweifellos der - das Werk gibt leider keine längere Präsenz her - kurze Auftritt des Cellisten Julian Steckel mit den "Rokoko-Variationen". Steckel schaffte es, mit außerordentlich leicht klingender Präzision und tollem Sinn für unterschiedlichste Tongebungen auf dem Instrument die Variationen - so naiv deren Thema auch zunächst daherkommt - wieder im Hörerlebnis spannend zu machen ohne in Sentiment oder dem Werk unangepasste Dramatik zu verfallen. Da hatte jemand schlicht Spaß am Stück, spielte in gewisser Weise ehrlich und konnte diese Spielkultur in höchst überzeugender Manier auch zum Zuhörer transportieren - bravo.
(27.12.)

Romantisches für die Bratsche

Vladimir Buka? in der Hochschul-Reihe "Professoren im Konzert"

Nähert man sich dem Neumarkt aus Richtung des Pirnaischen Platzes, so fällt das Objekt zwischen Tiefgarage, Polizei und Albertinume vielleicht nicht sofort auf. Bei näherem Hinsehen stellt man aber schon von außen fest, dass das schmale Gebäude Rampische Straße 29 liebevoll rekonstruiert wurde und dem westlichen Teil des Gebäudeensembles angemessene Würde verleiht. Bis 2010 aufgebaut, dient es heute - so eine Vorgabe der Stifter und Spender dieses Hauses - unter anderem als Studentenwohnheim für die Musikhochschule Dresden.

Damit der Unterhalt gesichert werden kann, musizierte man am Donnerstagabend im Konzertsaal der Musikhochschule mit dem Benefizgedanken für das Bürgerhaus, für das eine eigene Kulturstiftung existiert. Zu hören gab es eine neue Ausgabe der Reihe "Professoren im Konzert". Zwar sind viele Lehrende der Musikhochschule ohnehin im Kulturleben der Stadt verwurzelt, doch zum einen betrifft das nicht alle Professoren - manche, wie etwa Vladimír Buka?, haben ihren Lebensmittelpunkt in Prag oder an anderen Orten. Außerdem bietet die Reihe auch den reizvollen Anlass, dass die Studierenden ihren Lehrer bei der künstlerischen Artikulation im Konzert erleben können. Vladimír Buka?, der seit 1993 im legendären tschechischen Talich-Quartett spielt, lehrt sein Instrument, die Bratsche, seit 2002 am Institut und spielte ein Programm, das selbst dem bratschenliteraturvertrauten Hörer einige interessante Entdeckungen feilbot. Mit dem Scherzo c-Moll von Johannes Brahms wurde gleich ein nicht ganz einfacher Einstieg gewagt, bei der auch Marie-Anna Buka?ova am Klavier gleich gefordert wurde. Erst bei der folgenden, unvollendeten Sonate von Michail Glinka fanden die beiden zu verständigem und spannendem Spiel zusammen.

Die Werkauswahl, ausgehend von der Romantik bis zu tonalen Vertretern des 20. Jahrhunderts, sorgte nun für eine stetige Spannungssteigerung in den Interpretationen. Sogar die Themen der oft sich virtuos der Geigenliteratur ihrer Zeit anlehnenden Stücke waren sich im aufschwingend-ornamentierenden Charakter ähnlich, einen "Ausreißer" fand man da eher nicht. George Enescus Konzertstück für Bratsche und Klavier meisterte Buka? ebenso vortrefflich wie die "Zwei Stücke" des britischen Komponisten Frank Bridge - beide Komponisten sind in Konzertprogrammen nur selten anzutreffen, überraschen aber durch eine starke eigene Handschrift. Buka?s Bratschenklang gibt sich in all diesen Werken weniger romantisch-süffig, sondern stattdessen angenehm klar und unprätentiös. So verleiht er dem Instrument gehöriges Volumen, wenn der Klaviersatz vollgriffig zu übertönen versucht und gibt den kantablen Linien eine überzeugende, zielgerichtete Führung und Prägung.

Erst in einer Bearbeitung dreier Stücke aus dem Ballett "Romeo und Julia" von Sergej Prokofjew wurde die Stilistik auch auf die Tongebung erweitert - die Tragödie des Liebespaars erforderte einen sinnlich-narrativen Zugang und Buka? fand dazu etwa bei "Julias Tod" glasig-schöne Töne auf seinem Instrument. Wenn man am Ende des Konzertes - nach zwei Zugaben - konstatiert, dass man gerne noch mehr gehört hätte, was möglicherweise auch noch andere Facetten von Instrument und Interpretation eröffnet hätte, so ist dies durchaus als inspirative Ermunterung zu verstehen.
(13.12.)

Montag, 8. Dezember 2014

Hallelujah!

Strawinsky, Pärt und Adams im Philharmonie-Konzert

Das 5. Abendkonzert in der Dresdner Philharmonie am Sonnabend war in jeder Hinsicht außergewöhnlich, denn es standen drei sehr anspruchsvolle Werke auf dem Programm, die verschiedene musikalische Strömungen des 20. Jahrhunderts beleuchteten - keinesfalls gängiges Repertoire und faszinierend in der Zusammenstellung. Der Titel des Hauptwerkes, "Harmonielehre" des US-Amerikaners John Adams, wäre auch als Motto gut geeignet gewesen, denn der kreative Umgang mit Klangverbindungen in der Horizontale der Musik zeichnete alle Stücke aus, wenngleich diese sehr unterschiedlich wirkten.

Für Strawinsky, Pärt und Adams war mit Dennis Russell Davies ein Experte für diese Klangwelten eingeladen worden - nimmt man die Zugabe und den kammermusikalischen Epilog hinzu, gelang ein sehr intensiver Einblick in die Welt der "Minimal Music". Igor Strawinskys "Sinfonien für Bläser" (1947) standen beziehungsreich am Beginn des Programms, man kann dem leicht unterkühlt wirkenden Bläsersatz durchaus unterstellen, dass die hier angewendete blockhafte Montagetechnik ein Vorbild für spätere Minimal-Experimente war. Das kurze Stück wurde von den Bläsern der Philharmonie prägnant und mit klangsinnigem Choralschluss interpretiert, sodann gingen die Philharmoniker zu Arvo Pärts 2003 entstandenem "Lamentate" für Klavier und Orchester über.

Schade, dass Pärts Inspirationsquelle, die monumentale Skulptur "Marsyas" von Anish Kapoor, nicht wenigstens im Programmheft abgebildet war. Beim Zuhören konnte man sich zudem vorstellen, wie der Raum und die Musik gewirkt hätte, würde "Marsyas" im großen Lichthof des Albertinums über den Zuschauern schweben - hineinpassen würde die 150 Meter lange Skulptur wohl eher nicht. Dennis Russell Davies mit dem Orchester und die japanische Pianistin Maki Namekawa fanden im Laufe des "Lamentate" immer besser zusammen, wenngleich gerade die forte-Passagen etwa des "Spietato" mit säulenartigen Akkorden schwer in der Akustik umzusetzen waren. Doch nach und nach standen die Töne gleichsam beziehungslos und geschliffen im Raum; es breitete sich die bekannt ruhige Atmosphäre aus, die Pärts Musik zu eigen ist und die dennoch Raum läßt für die "Bilder im Kopf".

Maki Namekawa, die Pärt gut artikulierend interpretierte, gab eine Klavier-Etüde von Philip Glass als Zugabe - damit wurde auch ein guter Übergang zu John Adams geschaffen. Dessen 40-minütiges Orchesterwerk "Harmonielehre" (der Titel bezieht sich auf Arnold Schönbergs gleichnamiges Lehrwerk) aus dem Jahr 1985 war für den Komponisten ein künstlerischer Befreiungsakt, eine Art komponierte Katharsis. Wer sich diese Partitur auf's Pult legt, sollte wissen was er tut: in riesigen, rhythmisch höchst vertrackten Wellen rollen da entfesselte Klänge auf den Zuhörer zu, und wer dachte, der Stil des Minimalism würde lediglich Reduktion und Wiederholung bedeuten, irrte.

Komplex und mit einer gewaltigen inneren Kraft gibt sich die "Harmonielehre"; die Interpretation war für die Philharmoniker eine große Herausforderung, die aber unter Dennis Russell Davies erfahrenen, die übereinandergelegten Rhythmen klar ordnenden Händen zu einem grandiosen Spektakel geriet, bei dem man von dem vor allem im letzten Satz in den vom Dirigenten gut organisierten Klangsog mitgezogen wurde. Zuhörer wie Musiker mussten nach den letzten in den Lichthof katapultierten Akkorden erst einmal durchatmen, großer Applaus folgte und sodann gab es zum Ausklang eine ebenso schwindelig machende Hörerfahrung mit John Adams "Hallelujah Junction" (1996), die Dennis Russell Davies und Maki Namekawa mit sichtlicher Freude an zwei Flügeln darboten.

Montag, 1. Dezember 2014

Facetten des Todes

MDR-Orchester und Chor im Frauenkirchen-Konzert zum Ewigkeitssonntag

Konzerte in den Novembertagen lehnen sich in Dresden vielfältig dem Kirchenjahreslauf an. So kann man in den eher dunkleren Tagen einer Annäherung oder Auseinandersetzung mit Themen nachkommen, bei denen die Musik eine Brückenfunktion einnimmt und uns auch die Freiheit gibt, die Nähe oder Distanz selbst zu bestimmen. Ein von der Frauenkirche veranstaltetes Konzert zum Ewigkeitssonntag versammelte die Klangkörper des MDR unter der Überschrift "Requiescat in pace" innerhalb der Konzertreihe "Aufbruch und Ewigkeit".

Chor und Sinfonieorchester des MDR unter der Leitung von Chefdirigent Kristjan Järvi hatten sich aber nicht für eine einzelne abendfüllende Requiem-Komposition entschieden, sondern stellten einem 1994 entstandenen, kompakteren Werk dieser Gattung des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür (geboren 1959) zwei spätromantische Stücke gegenüber, die nicht mit dem liturgischen Text operierten, sondern eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Gestalt des Todes boten. Arnold Böcklins berühmtes Gemälde "Die Toteninsel" gerät durch Sergej Rachmaninows plastische Umsetzung in der gleichnamigen Tondichtung gleichsam in Bewegung.

Kristjan Järvi schuf sowohl in der Einleitung als auch in den am Schluss fast unauffällig aufscheinenden "Dies Irae"-Zitaten am Schluss eine sanft wogende Atmosphäre. In klaren dynamischen Grenzen musizierte er mit dem Orchester die Höhepunkte, so dass die Insel hier weniger den pathetischen Höllenanstrich bekam als vielmehr als phantastische Naturzeichnung wirkte.

Den großen Bariton Sergej Leiferkus, der just an der Semperoper in Leoš Janáčeks "Das schlaue Füchslein" brilliert, mit Modest Mussorgskijs "Liedern und Tänzen des Todes" erleben zu dürfen - das kann man allein schon als besonderes Geschenk betrachten. Leiferkus ging völlig in der Partie auf und fand genau den Gänsehaut verursachenden Tonfall, mit dem der tanzende und singende Tod - unterstützt von Dmitri Schostakowitschs vorsichtig untermalender Instrumentierung - die Menschen umgarnt. Kristjan Järvi begleitete dies so behutsam, dass Leiferkus sich ganz frei entfalten konnte und alle Farben in den Strophen des Zyklus intensivst auskostete.

Mit einem "echten" Requiem war dann nach der Pause ein perspektivischer Wechsel verbunden - statt der künstlerischen Betrachtung stand nun der innere Dialog mit den Worten der Totenmesse im Mittelpunkt. Erkki-Sven Tüürs Ansichten auf dieses Thema sind in einer extrem dem Ausdruck verpflichteten Musiksprache verfasst. Schmerz und Verlorenheit bilden sich in rotierenden Dissonanzen oder Clustern ab, Stärke und Zuversicht der Aussage finden zur Einstimmigkeit oder zu minimal changierenden Klangbildern - in solch einer "sprechenden" Partitur konnte sich Kristjan Järvi sehr zu Hause fühlen und differenziert in der Aufführung selbst quasi "registerziehend" mit Orchester und Chor arbeiten.

Gerade die "einfach" wirkenden Abschnitte sind dabei in der Schwierigkeit der Ausführung nicht zu unterschätzen. Nur in wenigen Teilen, die im Orchester von bewegten Flächen dominiert waren (etwa im "Agnus Dei"), geriet der Chor etwas in den Hintergrund - die Kirchenakustik hilft einem solchen Stück leider nicht zu völliger Transparenz. Doch mit dem Raum ist der stets hervorragend artikulierende MDR-Chor (Einstudierung Bart van Reyn) gut vertraut und auch die beiden Soli wurden aus dem Chor heraus von Antje Moldenhauer-Schrell und Falk Hoffmann versiert vorgetragen. Interessant an Tüürs Werk ist nach dem "Dies Irae" ein weiterer Höhepunkt am Ende des "Domine Jesu" - der Übergang in die anderen Sphären des "Sanctus" gerät hier als Rückschau auf das Chaos der vergangenen Welt. Dies zeigte eindringlich, dass der alte Text der Totenmesse in immer neuen Bildern interpretiert werden kann, das "komponierte Gedenken" auch je nach Anlass und eigener Erfahrung neu und sehr anregend sein kann.

Viel Beifall für Strauss' Kammermusik

Sonaten und Lieder erklangen im 2. Kapell-Kammerabend

Der Nachruhm des Komponisten Richard Strauss gründet sich vornehmlich auf seine Opern und Orchesterwerke - der Kammermusik hat sich Strauss über Jahrzehnte fast gar nicht gewidmet. Sieht man sich den Werkkatalog an, so dürften es pragmatische Gründe für die Vernachlässigung dieses Genres - mit Ausnahme des Liedschaffens - gewesen sein. Während Strauss in seiner Jugend Kammermusik vornehmlich für Familienmitglieder und Freunde komponierte und sich mit diesen Werken auch in Dresden einen Namen machte, gibt es erst wieder im Alterswerk einige wenige Stücke - doch selbst die "Metamorphosen" für 23 Solostreicher bezeichnete er als "Handgelenksübung".

Innerhalb der Richard-Strauss-Tage der Semperoper durfte dennoch ein Kammermusikabend nicht fehlen, denn viele dieser Werke wurden im Tonkünstlerverein der Staatskapelle uraufgeführt und werden bis heute gepflegt. Beim 2. Kammerabend der Staatskapelle konnte man auch weniger bahnbrechende Stücke erleben und quasi in die Wohnstube schauen, wo Strauss zwischen Abendessen und Skat vermutlich seine "Daphne-Etüde" für des Enkels Violinstunde geschrieben hat - selbstverständlich wurden diese paar Notenzeilen ebenso mit Inbrunst vorgetragen wie das "Ständchen" für Violine, Viola, Cello und Klavier, das, im familiären Rahmen aufgeführt, sicher Beifall für den 18jährigen Komponisten eintrug.

Von anderem Kaliber sind da schon seine Sonaten für Cello und Violine - ersteres ein deutlich Johannes Brahms verpflichtetes, auch zuweilen etwas brav und redselig daherkommendes Stück, dem Konzertmeister Norbert Anger gemeinsam mit Gunther Anger am Klavier aber gehörig Temperament einhauchte. Zudem, und das war eine Konstante an diesem Abend, konnte man im Gegensatz zu den oft opulenten Orchesterwerken hier den leisen Tönen nachlauschen, die Strauss ebenso intensiv auskomponierte: der zweite Satz der Cellosonate, der sich in nachdenklicher Manier kaum von der Stelle bewegt, gelang den beiden Interpreten meisterlich.

Solcherlei Zurückhaltung ist auch in der Violinsonate gefordert, die man von der Proportionierung her auch getrost als "Sonate für Klavier mit Violine" bezeichnen könnte. Doch Musiker wie Matthias Wollong (Violine) und Paul Rivinius (Klavier) wissen mit einer solchen mit Läufen und Ornamenten "geschwärzten" Partitur umzugehen: Rivinius bewahrte Wollong mit noblem Anschlag vor dem Untergang im vollgriffigen Klaviersatz, und mit schönem kantablen und stets souverän artikulierendem Spiel befreite Wollong die Sonate sofort von allem Unbill technischer Schwierigkeiten, der ihr nachgesagt wird.

Im Zentrum des Konzertes stand eine Auswahl des Strauss'schen Liedschaffens. Die Sopranistin Camilla Nylund war kurzfristig für die erkrankte Carolina Ullrich eingesprungen und brillierte mit einer schönen Zusammenstellung, quasi einem "Best of" der Klavierlieder. Klug disponierte sie die Höhepunkte, ließ ihren warmen Sopran verströmen und fand in den leisesten Stimmungen etwa in "Befreit" und "Morgen!" auch kongenial mit ihrem Begleiter Jobst Schneiderat zusammen, der die Melodielinien auf den Tasten differenziert aushorchte. Nach dem zuversichtlichen Schluss der "Zueignung" zeigten sich die Zuhörer begeistert - das hohe Niveau des gesamten Abends fand reichlichen Beifall.

Tschechische Sinfonik im Mittelpunkt

Stipendiatenkonzert mit der Philharmonie Teplice in der Musikhochschule

Manchmal wird Dresden gerne an einen wie immer auch zu definierenden "Rand" sortiert. Das mag von den Grenzen des Landes her stimmen, ansonsten sollte man dieser meist hingeworfene Bemerkung deutlich widersprechen, zumal das Überspringen kultureller Grenzen nicht nur in heutigen Zeiten meist mühelos zu vollziehen ist, sondern meistens auch zur Erweiterung und Bereicherung des eigenen Horizonts führt. Am Mittwoch wähnte man sich beim Stipendiatenkonzert der Brücke/Most-Stiftung, die sich genau diesem Kulturaustausch widmet, im Zentrum Europas.

Das im Rahmen der Tschechisch-Deutschen Kulturtage veranstaltete Konzert erhielt durch seine Solisten und Dirigenten aus Tschechien, Japan und Korea zudem internationales Flair. Seit 2011 führt die Stiftung Orchesterkonzerte mit Stipendiaten durch, die Dresdner Musikhochschule darf sich hier der Partnerschaft mit der Nordböhmischen Philharmonie Teplice versichern, die nun schon zum vierten Mal im Konzertsaal der Musikhochschule gastierte. Rektor Ekkehard Klemm zeichnete zu Beginn die koreanische Cellistin Sang Wha Kim mit einem DAAD-Stipendium aus, bevor das tschechisch-französisch geprägte, umfangreiche musikalische Programm startete.

Fünf Solisten, drei Dirigenten und insgesamt elf Kompositionen erforderten von den Musikern viel Aufmerksamkeit, was angesichts kleiner Piècen von Camille Saint-Saëns oder Antonín Dvořák zwar gut gelang, aber eben auch trotz guter Darbietung beim Zuhörer sehr leichtgefügt durchs Ohr rauschte - außer einem schönen Geigenklang, den Lenka Matejáková sofort ihrem Instrument entlockte, bietet Dvořáks Romanze eben nicht viel Tiefgang. Stilistisch etwas einsam im Programmzusammenhang wirkte auch das Altposaunenkonzert von Georg Christoph Wagenseil, das Klemm vom Cembalo aus leitete und das Michal Cerný mit warmtimbriertem Klang der Soloposaune ausstattete. Kristýna Landová (Querflöte) widmete sich drei kurzen Kompositionen von Saint-Saëns, die sich auf diese Weise fast zu einem Konzert fügten. Hier wie auch in manchen anderen Werken des Abends war bei den Solisten und den beiden jungen Dirigenten (Yukari Saito und Manyou Choi) eine leichte Nervosität zu beobachten, die zu einem vorsichtigen, abgesicherten Spiel führte.

Daher erhielten etwa Bedřich Smetanas Tondichtungen "Vyšehrad" und "Aus Böhmens Hain und Flur" aus dem Zyklus "Mein Vaterland" eine ziemlich geradlinige Interpretation, erst bei der berühmten "Moldau" spielten sich die Musiker mit dem Dirigenten frei. Gleich zu Beginn musste man sich über unscharfe Konturen in der Ouvertüre zur Oper "Die verkaufte Braut" wundern - obwohl Yukari Saito sich vom Pult aus mit recht klarer Gestik artikulierte, fehlte dem Stück vor allem die rhythmische Spannung. Im Orchester wechselten sich tolle Klangmomente mit Unstimmigkeiten doch zu oft ab, sodass ein insgesamt nicht ganz überzeugendes Bild entstand. Beispielsweise war die Begleitung der beiden hervorragenden Solisten Jana Kubíková (Querflöte) und Petr Kubík (Klarinette) in Saint-Saëns "Tarantella" sehr einfühlsam gelungen, doch mit der Akustik im Konzertsaal kam nicht nur der überartikulierende Harfenist in "Vyšehrad" nicht gut zurecht, dessen bis in den Rang hörbare Nachstimmaktion des Instrumentes in seinen Pausentakten ebenfalls keinen guten Eindruck machte.

Vielleicht hat hier die Masse des zu Präsentierenden und der stetige Wechsel von Solisten und Dirigenten die Intensität des Konzertes etwas gemindert. Im vollbesetzten Konzertsaal war viel Dankbarkeit für die kulturelle Begegnung mit Tschechien zu spüren. Ganz klar zu unterstützen ist die Initiative, mit der Musik unserer Nachbarn in jungen, frischen Interpretationen Grenzen gar nicht erst entstehen zu lassen.

Mittwoch, 5. November 2014

Ukrainisches durch die Tschaikowsky-Brille

3. Sinfoniekonzert der Elblandphilharmonie Sachsen

Nur auf den ersten Blick hätte das Motto des 3. Sinfoniekonzertes der Elblandphilharmonie Sachsen Irritierung verursachen können, denn gemeinhin verbindet man mit Peter Tschaikowsky Orte wie St. Petersburg oder Moskau und ordnet ihn schlicht der "russischen Musik" zu, was allerdings bei vielen Komponisten östlicher Provenienz des 19. und 20. Jahrhunderts eine die genaue Herkunft und Biografie vernebelnde Kategorisierung ist. Das Motto hieß jedoch "Ukraine" - damit wurde ein musikgeschichtlich interessantes Kapitel aufgeschlagen, zog sich Tschaikowsky doch im Sommer regelmäßig in die Künstlerkolonie Kamjanka - im Südosten der heutigen Ukraine gelegen - zum Komponieren zurück.

Jedoch war das gesamte Programm Peter Tschaikowsky gewidmet, damit konnte vom Motto her kein direkter Faden zur Gegenwart gezogen werden, und der Blick auf die Ukraine geschah an diesem Abend lediglich durch die sinfonische Tschaikowsky-Brille. Wohl aber geriet man ins Nachdenken über das musikalische Kulturgut, an dem Tschaikowsky etwa mit der Verwendung ukrainischer Volksmelodien einen Anteil hatte. In diesem Kontext etwas unglücklich schien die Programmierung des "Slawischen Marsches" Opus 31 zu Beginn des Konzertes - handelt es sich dabei doch um ein offen kriegssympathisierendes Stück, das Tschaikowsky für eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten verwundeter Serben im serbisch-osmanischen Krieg komponierte. Ob das Marschgetöse im Publikum einen faden Beigeschmack hinterließ, bleibt fraglich. Eher schien große Zustimmung für die volltönende Darbietung zu herrschen, Dirigent Jan Michael Horstmann hatte das Orchester auch optimal vorbereitet, der Altarraum der Lutherkirche Radebeul sorgte zudem für saftige Verstärkung im Tutti.

In ruhigere Gefilde ging es mit den beiden konzertanten Werken, dem "Andante Cantabile" aus dem ersten Streichquartett und den bekannten "Rokoko Variationen". Hier setzte sich das Motto auch bei der Interpretin fort: sicher kann man der aus Kiew stammenden Cellistin Anna Nuzha keinen "ukrainischen Ton" andichten, doch gerade die Wärme und leidenschaftliche Intensität der kantablen Passagen in der für leiseste Nuancen des Solocellos dankbaren Akustik ließen die Interpretation vorzüglich, in gewisser Weise eben auf natürliche Weise heimatverbunden erscheinen. Jan Michael Horstmann hatte mit dem Orchester keinerlei Probleme, Anna Nuzha gut zu folgen und das Orchester auf die kleine Variationenreise mitzunehmen. Die Cellistin bedankte sich für den herzlichen Applaus mit einer intimen "Improvisation" von Oleksandr Znosko-Borovsky (1908-83), einem hierzulande gänzlich unbekannten ukrainischen Komponisten.

Als "Kleinrussland" wurde im russischen Kaiserreich die Ukraine bis ins späte 19. Jahrhundert bezeichnet und der Name hat sich in Tschaikowskys Untertitel der 2. Sinfonie erhalten - es ist ein sehr freundliches, melodienseliges und zuweilen dramatisch herausfahrendes Stück, das auch den Applaus der als "Mächtiges Häuflein" bekannten Komponistenkollegen Balakirew und Mussorgskij hervorrief. Jan Michael Horstmann und die Elblandphilharmonie Sachsen kümmerten sich mit großer Genauigkeit, aber auch gehörigem Schwung um das Werk - das gelang in dieser Lesart in allen vier Sätzen sehr überzeugend.

In den Strudel der Musik gezogen

Hochschulsinfonieorchester Dresden in der Semperoper-Matinee

Vermutlich ist es zuviel verlangt und dennoch muss der Wunsch geäußert werden angesichts einer umwerfenden Hörerfahrung im Konzert der Musikhochschule Dresden: In unserer reichhaltigen Kultur erliegen wir zu oft einem Kanon, der uns unwidersprochen präsentiert wird - da zählen Quote und Wiederholung des Genehmen, Bekannten mehr als die Neugier und das Experiment. Auf diese Weise werden aber ständig wichtige Kunstwerke einfach unter den Teppich gekehrt, bleibt der Mut und der Wille zur Auseinandersetzung Mangelware: Uraufführung genügt, Pflicht vollbracht.

Diese Gedanken müssen einem beim Hören der 3. Sinfonie von Wilfried Krätzschmar kommen, denn dieses Werk erlebte am Sonntag, 22 Jahre nach der Uraufführung in Berlin,seine fällige Dresdner Erstaufführung, den 70. Geburtstag seines Schöpfers würdigend. Es ist keine Übertreibung zu konstatieren, dass diese Komposition in ihrer Wucht und Vehemenz der Aussage längst einmal und wiederholt zu Gehör hätte gebracht werden müssen. Nicht nur bricht Wilfried Krätzschmar die Traditionen der Sinfonie hier erfrischend auf und deutet sie neu, er zieht den ganzen Ballast einer Musikerfahrung einer erdrückenden wie volltönenden Musikhistorie auch noch im Stück mit - das hat maximal Vorbilder in der ebenso handstreichartigen Musik eines Alfred Schnittke oder Bernd Alois Zimmermann.

Der Strudel indes ist nötig, um neue Türen zu öffnen: hier sind es Adagio-Ideen, die sich in aller Ruhe ihren Weg bahnen, ist es ein verstimmtes Klavier, das einen modernen Leiermann in seiner ganzen Einsamkeit mimt. Und das Ganze hervorragend gespielt von Musikstudenten, die Krätzschmar, dem früheren Rektor der Hochschule, auf diesem fast musiktheatralischen Weg mit Hingabe folgen. Ekkehard Klemm ist die Wiedererweckung des Werkes zu danken, das viel Nachdenklichkeit hinterließ. Zuvor hatte Klemm als amtierender Rektor sowohl den neuen Hochschulrat berufen als auch zwei Professuren - an Christiane Bach-Röhr (Gesang) und Hendrik Gläßer (Schlagzeug) verliehen. Kontrastreich ging es nach der Krätzschmaraufführung weiter - Béla Bartóks Violakonzert ist ein verklärtes Spätwerk, bei dem viel Sinn für Zwischentöne entstehen muss. Es war bei der Solistin Hui Ma (Klasse Pauline Sachse) zwar in technisch versierten Händen, dennoch war die Interpretation nicht durchweg befriedigend - einige Unsicherheiten der Solistin waren ebenso zu beobachten wie eine nicht intensiv genug gestaltete Faktur der drei Sätze.

In puncto Intensität und vor allem Spielfreude gab es aber nach der Pause jede Menge Erfreuliches zu berichten: dass Franz Schuberts "Große" Sinfonie eigentlich genug Material für mehrere Sinfonien bietet und genüsslich die Formen nicht nur exerziert sondern auch beständig hinterfragt, machte Klemm mit seinem Hochschulorchester in einer lebendigen, pointierten Lesart deutlich. Bläser und Streicher gingen da begeistert mit und motivierten sich auch gegenseitig zu einer Höchstleistung, die sowohl harte Arbeit einschloss als auch jede Menge musikalischen Genuss beim Spielen, der sicht- und hörbar wurde.

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