Rezensionen
Hélène Grimaud und Paavo Järvi im 10. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle
Gewisse Künstler begleiten uns Zuhörer ein Leben lang, ohne dass wir es besonders forcieren müssen. Man merkt eine Verbundenheit, eine gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn der Künstler etwas Neues zu sagen hat, eine neue CD veröffentlicht oder zum Konzert gastiert. Mit der Pianistin Hélène Grimaud kann man eine solch niemals ermüdende Beziehung eingehen, weil man durch das Musikerlebnis mit ihr stets bereichert wird - niemals durch Perfektion (was überhaupt ein zweifelhaftes musikalisches Ziel wäre) oder Endgültigkeit, sondern durch eine Energie der Aussage, die zur Auseinandersetzung zwingt.
Grimaud lehrt uns zum einen, wie vergänglich der Moment der Musik ist, zum anderen wie tief wir dringen können, wenn wir uns der Musik öffnen - was für Grimaud, das war im 10. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle spürbar, auch ein Art von natürlichem Abenteuer, einen Grenzgang bedeutet. Johannes Brahms 1. Klavierkonzert d-Moll bietet in seiner Komplexität erst einmal vielfältige Möglichkeiten des Zugangs, darin liegt aber auch die Gefahr, sich zu verlieren oder bestimmte Ausdruckswelten zu sehr zu betonen. Grimaud schaffte es, Dialoge zu initiieren: mit dem Orchester, mit dem Gastdirigenten Paavo Järvi, der höchst konzentriert den symphonischen Charakter des Werkes wahrte, aber auch mit dem Komponisten selbst. In Grimauds Spiel erschien die Vertrautheit der Schumannschen und Beethovenschen Welt exakt gleichberechtigt neben den schroffen Ausrufezeichen des 1. Satzes, mit denen Brahms temperamentvoll neue Ausdrucksebenen erkundet.
Der 2. Satz führt in die Welt der Poesie und des Liedes und wurde in der Dynamik von Järvi ganz zurückgenommen, niemals wurde aber der Fluss der ruhigen Ausformung verlassen. Hélène Grimaud fand viele differenzierte Farben für dieses Konzert. Selbst kleine Intermezzi, die nur in eine andere Tonart führen oder ein Thema noch einmal virtuos dekorieren, nahm sie ernst und bettete diese hervorragend in den Kontext ein. Der 3. Satz spiegelt nur am Anfang heiteren Ausklang vor, Grimaud formte daraus einen stürmischen Befreiungsakt, der unumkehrbar in den Schluss mündete - von wenigen kleinen Überraschungen bei Übergängen zwischen Solistin und Orchester abgesehen, war dies ein durchweg packendes Musikerlebnis.
Béla Bartóks 1943 entstandenes "Konzert für Orchester" stand als sinfonisches Werk nach der Pause auf dem Programm. Hier ist das "Instrument" Orchester in Bartóks Farbpalette in allen Gruppen virtuos behandelt, zudem warten die fünf Sätze mit immer neuen Formen, Zitaten und folkloristischem Material auf. Paavo Järvi wirkte fast komplett entspannt bei seiner Tätigkeit am Pult - freundlich, völlig klar in seiner Zeichengebung und dabei jederzeit Energie und Motivation vermittelnd führte er die Staatskapelle, bei der in diesem Konzert Musiker des Gustav-Mahler-Jugendorchesters mitwirkten, zu einer ausdrucksstarken und sehr lebendigen Interpretation, die selbst im turbulenten 5. Satz nie über das Ziel eines noblen, transparenten Gesamtklangs hinausschoss.
(12.5.14)
Han-Na Chang gibt ihr Dirigierdebüt beim Aufführungsabend der Staatskapelle
Das Format ist lange etabliert und wird vom Publikum gerne angenommen: die Aufführungsabende der Sächsischen Staatskapelle sind die "kleinen" Sinfoniekonzerte, in denen Werke Aufmerksamkeit erhalten, die in kleiner Form oder reduzierter Besetzung eben nicht den großen sinfonischen Kontext vertragen, aber dennoch Genuss garantieren. Zudem stellen sich hier Kapellmusiker als Solisten vor und junge Dirigiertalente sind eingeladen, im Semperbau ihre Visitenkarte abzugeben.
Auch der 3. Aufführungsabend machte da keine Ausnahme, mit der 32jährigen Koreanerin Han-na Chang stand eine Dirigentin am Pult, die schon eine beachtliche Karriere als Cellistin aufzuweisen hat. Nachdem sie mit 11 Jahren bereits den Rostropowitsch-Concours in Paris gewann, spielte sie als Jugendliche schon in den Konzertsälen der Welt - so auch 1996 gemeinsam mit Giuseppe Sinopoli in der Semperoper, wo ein Haydn-Konzert auf dem Programm stand. In den letzten Jahren widmet sie sich mehr und mehr dem Dirigieren und bekleidet Ämter im Qatar und Norwegen.
Ihr Dresdner Debüt gestaltete sie mit Werken von Mozart, Dvořák und Bartók - insgesamt recht unspektakuläre Stücke eigentlich, die daher auch besondere Sorgfalt in der Interpretation bedürfen. Das gelang Chang weitgehend gut - ihr Musizieren der Sinfonie g-Moll, KV 183 von Wolfgang Amadeus Mozart war stets lebendig und motivierend, forderte aber auch einige Male ein etwas wirkungslos im Raum stehendes forte oder piano heraus - in dieser Terrassenlandschaft hätte Chang sich durchaus mehr Freiheiten gönnen dürfen, zumal hervorragend phrasierende Musiker zur Verfügung standen.
Antonín Dvořáks Romanze Opus 11 erscheint manchmal als Zugabe in den Aufnahmen des großen Violinkonzertes, ansonsten werden solche Stücke selten zu Gehör gebracht. Konzertmeister Kai Vogler nahm sich des kurzen Werkes an und fand auf der Violine auch gleich zu dem im Stück gefragten innigen melancholisch-singenden Ton. Einige intonatorische Trübungen verwunderten jedoch im Zusammenspiel mit dem Orchester und richtig glücklich wurde man mit diesem (zu) kurzen Intermezzo aus der slawischen Musikwelt nicht.
Ganz anders liegt der Fall bei Béla Bartóks "Divertimento" - der Titel trügt, das Spätwerk offeriert keinesfalls eine lose Satzfolge munterer Musik. Nachdenklichkeit und innere Unruhe des Komponisten in der Entstehungszeit 1939 sind im Stück trotz der Beständigkeit seiner Musiksprache, die heimatliche Volksmusik stark einbezieht, immer wieder greifbar. Han-na Chang fing diesen Charakter gut ein, leitete die immer wieder solistisch aufgefächerten Streicher zu einer rhythmisch präzisen und den Bogen des Stückes weiterdenkenden Interpretation an, bei der der langsame Mittelsatz mit seinen Stockungen und aus dem Nichts erscheinenden, sich lange steigernden Melodielinien sehr intensiv gelang. Das "Grazioso" des letzten Satzes blieb eine Episode aus einer anderen Welt, der Kehraus gerät schroff und endgültig - schön, wie diese Interpretation dem Stück gerecht wurde. Han-na Chang und die Kapellmusiker erhielten dafür langen Applaus.
(2.5.14)
Jubiläumskonzert "40 Jahre Studio Neue Musik" an der Hochschule für Musik
Institutionen und Ensembles der zeitgenössischen Musik sind oft von Fluktuation und Wandel geprägt, wie sich eben auch die Kunst der Zeit auf natürliche Weise verändert und verästelt. Doch es gibt auch feste Säulen in der Musikvermittlung, deren Anspruch und Wille stark und auch über die Zeiten hinweg nützlich ist. Dazu gehört das "Studio Neue Musik" an der Dresdner Musikhochschule, das in diesem Jahr sein 40jähriges Bestehen feiert. Nicht mehr und nicht weniger als lebendige Musikgeschichte schreibt diese Institution seit vier Jahrzehnten und ist dabei als studentische Initiative entstanden. Der Wunsch, sich mit aktuell entstehender Musik praktisch auseinanderzusetzen und damit, trieb damals den Komponisten und Dirigenten Christian Münch um und er stieß auf offene Ohren.
Lange Zeit wurden die Konzerte als Gesprächskonzerte durchgeführt, später dann in den Hochschulbetrieb selbstverständlich integriert. Führen an anderen Hochschulen in der Bundesrepublik solche Studios oft ein elfenbeinturmähnliches Dasein im musikwissenschaftlichen Hinterzimmer, so ist es Christian Münch zu verdanken, dass kaum eine Partitur, die beflissene Studenten oder Komponisten ihm zur Einstudierung vorlegten, nicht realisiert wurde. Dabei entstand über die Jahre eine - hoffentlich auch dokumentierbare - enorme Menge an Ur- und Erstaufführungen.
Weltweit beachtete Komponisten, die als Gäste an der Hochschule weilten, bekamen und bekommen durch das Studio Neue Musik zumeist ein Kammerkonzert, in dem sich die Studenten praktisch mit der Musik auseinandersetzen. Nicht unerwähnt bleiben darf auch, dass aus dem Studio heraus Studenten erst Feuer und Flamme für die zeitgenössische Musik fingen, sich Ensembles bildeten und Synergien in alle Fachbereiche dringen. Das Jubiläum des Studios wurde mit einem Konzert gewürdigt, das lediglich einen feierlichen Charakter vermissen ließ - stattdessen zeigte man in bescheidener Weise den gewohnten und geschätzten Ethos praktischer Arbeit.
Das Konzert im kleinen Saal der Hochschule präsentierte Kompositionen, die allesamt keinesfalls "nebenbei" realisierbar sind und neben den instrumentalen Fertigkeiten auch gehörigen Mut zu intensivstem Ausdruck und zur Grenzüberschreitung benötigen. Das Trio für Oboe, Cello und Klavier (1979) von Georg Katzer als eine auch rhetorisch klangmächtige Auseinandersetzung mit Versen von Arthur Rimbaud forderte Yung-Hung Chang, Edyta Stomska und Jingshan Cheng enorm. Ernst Helmuth Flammers kurzes Klavierstück "Habanera", von Richard Röbel zwingend interpretiert, bot dem Ohr da eine kleine Entlastung.
Denn mit zwei weiteren Stücken von Christian Münch und Friedrich Schenker waren die Zuhörer erneut gefordert, gewohntes Hörterrain zu verlassen. Münchs "bleiben (1)" für zwei Posaunen und Tuba steckt einen geschlossenen musikalischen Raum ab, in dem man sich hörend verlieren muss, weil die Suche nach Motiven oder Kontrasten scheinbar aussichtslos bleibt - der installative Charakter einer Musik, die schlicht "anwesend" ist, tritt in den Vordergrund und stellte die Interpreten Christoph Petzold, Darius Mütze und Albrecht Gehring vor eine fast pausenlos tönende, besondere Herausforderung.
Friedrich Schenkers 1978 entstandene Ensemblemusik "Hades di Orfeo" führte zum Ende des Konzertes titelgemäß konsequent in den Abgrund - viel Gesang bleibt dem armen Orpheus angesichts der mit viel Schlagzeug und halbszenischen Aktionen demonstrierten Schreckenswelt da nicht mehr. Dirigent Andrea Barizza leitete die Studenten zu einer konzentrierten und klanggewaltigen Aufführung an, in der ab und an einige kleinere Formationen und ein formidables Kontrabass-Solo differenzierten einen Halt beim Hören ermöglichten. Das letztgenannte Werk war wiederum ein aus studentischer Initiative entwickeltes Projekt. So reichhaltig die zeitgenössische Musik sich darstellt, so ehrenwert ist Christian Münchs langjähriges Engagement mit dem "Studio Neue Musik" zu würdigen. Zeitgenössische Musik macht auch zukünftig nur Sinn, wenn man sich ihr aufmerksam und ernsthaft widmet und sie - nach sorgfältiger Erübung - erklingt.
(30.4.14)
Landesjugendblasorchester Sachsen zeigte Spektrum der "Klassiker"
Vermutlich nicht jedem Konzertgänger ist das "Sinfonische Blasorchester" ein Begriff - ist unsere Wahrnehmung klassischer Musik doch heute wesentlich von den Sinfonieorchestern und Ensembles der Kammermusik geprägt, die sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet haben. Dabei haben die Blasorchester eine eigene weitreichende Musikgeschichte, lassen sich gar auf Mozarts "Harmonie" und mittelalterliche Stadtpfeifer zurückführen. Aufgrund der speziellen Besetzung, die Verzweigungen sowohl in die Militärmusik als auch in regional geprägte Laienmusik aufweist, ist im Laufe der Zeit eine ganz eigene Musikgattung entstanden, für die es auch von klassischen Komponisten Originalkompositionen gibt.
Der spezielle Klang des etwa 40köpfigen Ensembles mit Holz- und Blechbläsern sowie Schlagzeug fordert nicht zuletzt zum Grenzgang zwischen klassischer Musik, Jazz und Unterhaltungsmusik heraus. Seit 1997 existiert in Sachsen das Landesjugendblasorchester Sachsen, das in jährlich zwei Projektphasen Konzertprogramme einstudiert und aus jungen Musikern der Musik- und Hochschulen besteht. Nach dem Eindruck des "Klassiker"-Programms, mit dem sich das Orchester am Sonnabend im Saal des Heinrich-Schütz-Konservatoriums Dresden vorstellte, möchte man behaupten, dieses Orchester kann alles, und das auch noch auf einem sehr guten Niveau.
Keineswegs handelt es sich bei der Projektphase um eine lockere Musikerferienfreizeit, die vier vorgestellten Werke waren so abwechslungsreich und für alle Bläsergruppen gleichermaßen herausfordernd, dass man merkte, wieviel Arbeit und Engagement dahintersteckte. Dirigent Thomas Scheibe, selbst erfahrener Orchestermusiker und seit Jahren mit mehreren Ensembles in Sachsen aktiv, konnte mit jederzeit klarem Dirigat die Musiker zu einer kompakten Gesamtleistung animieren. Das Motto "Klassiker" war natürlich weit auslegbar - hier handelte es sich ausschließlich um Werke des 20. Jahrhunderts.
Gustav Holsts "Suite for Military Band" Es-Dur greift auf alte Formen und Carols zurück - "very british" traf das Landesjugendblasorchester genau den warm timbrierten Ton dieser Musik. Der US-Amerikaner Don Gillis hingegen steht für eine Komponistengeneration, die Broadway, Jazz und Klassik gleichermaßen verinnerlichte und zu neuen Originalwerken führte. Rhythmische Präzision und einiges an virtuosem Glamour waren in Gillis Symphony "5 1/2" zu bestaunen - Scheibe vermochte die Klangmassen gut zusammenzuhalten und differenzierte auch die Dynamik im schwierigen Saal.
Karel Husas "Music for Prague 1968" war sicherlich das eindrucksvollste Werk des Konzertes: eine zeitgenössische Musiksprache verband sich hier mit tiefem Ausdruck. Direkte persönliche Erlebnisse des Exil-Komponisten sind hier in klageartige, nachdenkliche Klänge verwoben, vom leise pochenden Schlagzeugintermezzo bis zu großbögigen, auch kantablen Steigerungen waren die Musiker hier voll gefordert. Ein versöhnlich-volkstümlicher Ausklang gelang mit George Enescus "Rumänischer Rhapsodie Nr. 1", die auch in der originalen Orchesterfassung sehr bekannt ist. Erneut konnte man sich hier über einen mutigen Zugriff in allen Orchestergruppen freuen, überhaupt waren sämtliche Soli selbstbewusst und mit Können ausgestaltet. Das an diesem sonnigen Nachmittag leider nur spärlich besetzte Auditorium honorierte diese Leistung kräftig.
(29.4.14)
* Die Konzertwiederholung in Frankenberg wird von MDR Figaro aufgezeichnet und zu einem späteren Zeitpunkt gesendet
*
https://www.blasmusik-sachsen.de/das-ljbo.html
Rachmaninow, Strauss und Tschaikowsky mit der Dresdner Philharmonie
Die Osterfeiertage sind nicht nur christliche Feiern, sie bedeuten für viele auch die Möglichkeit einmal Luft zu holen an einem langen Wochenende und Familie und Hobbys zu pflegen. Und natürlich geht man an solchen besonderen Tagen gerne ins Konzert. Gleich dreifach spielte die Dresdner Philharmonie an den Feiertagen ihr Osterprogramm im Schauspielhaus - für diese keinesfalls selbstverständliche Leistung sei dem Orchester einmal besonders gedankt.
Keinesfalls wurde "Schonkost" angesetzt, das Ostermenü soll schließlich auch in den Ohren schmackhaft erscheinen. Der Appetizer war allerdings kaum der Rede wert - Sergej Rachmaninows "Vocalise" Opus 34/14 kam zwar sanft tönend über die Bühne, aber mehr als ein "Ach wie schön" kann man dem kurzen Stücklein kaum abringen. So war es vermutlich auch gemeint, und so erreichte es auch die Zuhörer.
Ganz anders liegt der Fall bei Richard Strauss "Vier letzten Liedern". Ein tiefgehender, melancholischer Rückblick auf ein langes Künstlerleben entfaltet sich da, in warme und vertraute Töne gegossen. Seit der Uraufführung 1950 sind die Lieder zum Meisterstück großer Sopranistinnen wie Kirsten Flagstad, Elisabeth Schwarzkopf und Jessye Norman avanciert. Als Solistin konnten die Dresdner die Rostockerin Gun-Brit Barkmin erleben - vielleicht war es für manchen eine schöne Wiederbegegnung, denn Barkmin hat an der Dresdner Musikhochschule studiert. Über Freiberg und Berlin führte ihr Weg dann an die Bühnen der Welt, wo sie heute große Titelrollen (Salome, Jenufa, Lady Macbeth) ihres Fachs interpretiert.
Die Strauss-Lieder präsentierte sie bei dem Philharmonie-Debut erstmalig und überzeugte mit guter Diktion und einer strömenden, sicher geführten Stimme. In allen vier Liedern spürte sie mit Bedacht der Balance zwischen dem großen, zyklischen Bogen und der fast innigen, intimen Atmosphäre nach - in dieser schönen Farbpalette waren die Lieder keinesfalls auf Schmerz und Abschied reduziert. Schwieriger erschien die Einbettung in den Orchesterklang - hier und da fügten sich die Harmonien nicht ganz überzeugend ineinander und eine von Sanderling bevorzugte Schattierung und Dämpfung des Klanges führte manchmal zu einer zu fahlen Gesamtatmosphäre.
Ein musikalischer Weltenwechsel stand nach der Pause an: Peter Tschaikowskys 5. Sinfonie e-Moll verspricht saftigen spätromantischen Klang. Da war es zunächst überraschend, dass Michael Sanderling den ersten Satz derartig genau sezierte, dass man die Puzzleteile der Sinfonie einzeln präsentiert bekam. Folgt man dem Stück ebenso aufmerksam, wie dies die Philharmoniker in jeder einzelnen Phrase taten, so bleibt allerdings von der Leidenschaft und dem Schmelz, den dieses Stück vermutlich braucht, um von einigen Schwächen abzulenken, nicht mehr viel übrig.
So war auch im ersten Teil des vierten Satzes noch eine genaue Bestimmung von Haupt- und Nebenstimmen gegenwärtig, bemühte man sich um Schönklang (mit feinem Hornsolo!) und genaue dynamische Abstufung. Erst bei der finalen Apotheose gibt es kein Zurück mehr und hier spielten die Philharmoniker auch befreit auf, dafür gab es viele Bravo-Rufe vom Publikum.
(21.4.14)
Klavier-Recital Radu Lupu in der Semperoper
Es ist ein Glücksfall für das Dresdner Publikum, dass die Staatskapelle den rumänischen Pianisten Radu Lupu in dieser Saison als Capell-Virtuos gewinnen konnte. Der 68jährige wählt seine Auftritte mit Bedacht; seine Kunst erscheint als das völlige Gegenteil des heute in der Klassikszene oft zu beobachtenden Personenkultes. Beim Recital in der Semperoper schritt er bedächtig zum Flügel, dem Arbeitsgerät, vor dem ein gewöhnlicher Stuhl steht. Ab diesem Moment zählen nur noch die Noten von Robert Schumann. Ruhe kehrt ein im Semper-Rund und von Lupu geht in jedem Augenblick eine solche Erdung und Ernsthaftigkeit aus, dass man für einen Moment fürchtet, je wieder die "Kinderszenen" selbst wieder in die Hand zu nehmen.
Lupu schlägt das allbekannte Schumannsche Bilderbuch auf, ohne je im Spiel ein Eselsohr oder einen Fleck auf den Blättern zu hinterlassen. Behutsam und filigran werden die Miniaturen gestaltet, manchmal gar ein bißchen lässig. Die "Träumerei" gleitet fast schwerelos vorbei, rasch wechselt Lupu die Charaktere und bleibt dabei konturenscharf. Erst beim abschließenden "Der Dichter spricht" erlaubt er sich ein Innehalten. Auch in den folgenden "Bunten Blättern", die Schumann aus früheren Klavierstücken zyklisch zusammenstellte, gelingt Radu Lupu ein atmosphärisch dichtes, immer auf Linie bedachtes Spiel. Hier gelingen atemberaubende dynamische Differenzierungen, schleicht sich ein crescendo nahezu unmerklich ein, wird der Walzer des dritten Albumblattes mit Samthandschuhen angefasst und fällt dennoch nie der Konvention anheim.
Der erste Konzertteil ist eine Veredelung der Miniatur, es sind viele Kostbarkeiten, denen gemeinsam ist, dass sie mehr den gedanklich geschärften Moment als eine lange, von womöglich dramatischer Natur bestimmte Entwicklung in den Vordergrund stellen. Im zweiten Teil des Konzertes gab es mit der späten A-Dur-Sonate von Franz Schubert keinen wirklichen Kontrast, sondern eine stimmige Ergänzung. Die vier Sätze dieser Sonate sind von einem großräumigen "parlando" und vielen lyrischen Inseln bestimmt. Radu Lupu bleibt sich auch hier treu - seine Schubert-Welt ist ein wohlaufgeräumter Ort, bei dem selbst die Erschütterungen des zweiten Satzes sorgsam eingebettet erscheinen. Es ist ein überlegter Schönklang, von langer Erfahrung mit Werk und Komponist geprägt.
Falls man sich in diesen wohlgeformten Phrasen überhaupt etwas wünscht, dann wohl lediglich, dass dieses Kartenhaus nicht ewig Bestand haben möge - ist dieser Schubert nicht doch zu schön, um wahr zu sein? Wie eine Kartografie breitet Lupu die unergründlichen Weiten des vierten Satzes auf und spielt die von Pausen durchzogenenen und nicht vollendeten Ausgänge dieser Sonate als einen Raum mit vielen Türen. Doch während andere Pianisten diesen Schubert-Raum mit Fragen und Zweifeln behaften, steckt bei Lupu in jeder Tür ein Schlüssel. Die letzte fällt mit einem noblen forte ins Schloss. Mit dem Improptu As-Dur von Schubert entfernt sich Lupu auch in der einzigen Zugabe nicht von der Ausdruckswelt dieses Abends, in der die Ausformulierung gereifter Gedanken bestimmender, haltgebender Fixpunkt war und schlicht zu einem Wohlgefühl beim Zuhören führte.
(18.4.14)
Mozart, Voigtländer und Lachenmann im Hochschul-KlangNetz-Konzert
Am Sonntag fand im Konzertsaal der Hochschule das vom KlangNetz Dresden veranstaltete zweite Konzert der Reihe "Einstürzende Mauern" statt. Diesmal erweiterte sich der Besetzungsrahmen auf Werke der Chorsinfonik. Doch die Fortführung des an sich spannenden Gedankens, bezugnehmend auf den Mauerfall vor 25 Jahren die Musik dieser Zeit und ihre Voraussetzungen und Wirkungen zu beleuchten, kam bei diesem Konzert nicht gut zur Wirkung. Das lag vor allem daran, dass mit einer Dirigierprüfung, einer Stipendienverleihung - das Weber-Stipendium ging diesmal an die Pianisten Hyesu Lee und Eva Schaumkell sowie den Komponisten Nicolas Kuhn - und dem Semesterkonzert des Hochschulchores obligate Termine des Institutes mit dieser Reihe verquickt wurden.
Damit musste ein über zweieinhalb Stunden dauerndes Programm verdaut werden, dessen Dramaturgie das Motto der KlangNetz-Reihe nicht wirklich in den Vordergrund der Hörerlebnisse rückte. Andererseits ist man natürlich dankbar dafür, dass die Dresdner Musikhochschule die Musik der Gegenwart in den letzten Jahren sehr selbstverständlich in alle Elemente des Studienablaufes integriert. Im ersten Teil lauschte man aber zunächst der großen Missa in c-Moll von Wolfgang Amadeus Mozart - ein Meisterwerk ohne Frage, aber die Interpretation mit dem sehr stark besetzten Chor (Einstudierung Olaf Katzer) war nicht durchweg überzeugend, da Johannes Dasch am Dirigentenpult die Musik zumeist recht geradlinig formte und trotz vieler schöner Momente - zu denen auch das Solistenquartett mit Romy Petrick, Anna Immonen, Martin Rieck und Martin Schicketanz beitrug - Kontraste und Motivausdeutung nicht intensiv genug wirkten.
Aufführungspraktische Fragen wurden da kaum berührt und der Chor wirkte oft schlicht zu massiv und bunt besetzt - die Schwierigkeiten des immer neu zu startenden Semesterprojektes "Hochschulchor" mögen einleuchtend sein, für den Zuhörer waren sie diesmal im Ergebnis nicht befriedigend. Die Messe sollte einen Widerpart zum zweiten Programmteil mit Lothar Voigtländers "MenschenZeit"-Oratorium bilden. Beide Werke erstrahlen aber in solch starker eigener Kraft, dass sie eigentlich gar nicht nebeneinander programmiert werden dürften - warum hat man sich nicht auf eines der Werke konzentriert?
Dazwischen lag ein mit Helmut Lachenmanns "Notturno" für kleines Orchester mit Cello Solo (Solist: Gilbert Bernado Roig) quasi ein Intermezzo, das trotz ansprechender Interpretation in seiner Ästhetik der "musique concrète instrumentale" etwas verloren für sich stand und es mit diesen "Schwergewichten" kaum aufnehmen konnte. Voigtländers 2007 von der Singakademie Dresden uraufgeführtes Oratorium darf man, wenn nicht als geistliches, so doch zumindest als herausragendes geistiges Werk betrachten, setzen sich doch Komponist und Autor (Eugène Guillevic) hier mit der Wahrnehmung, den Widersprüchen und Vergänglichkeiten der Zeit auseinander. Ein großes, sofort philosophische und humanistische Tiefen berührendes Thema also, für das Voigtländer eine direkte, packende musikalische Ansprache wählte.
In einer Art poetischen Unruhe werden da immer neue emotionale Stürme entfacht - trotzdem gelingt ein Festhalten im Zuhören, da der 1943 geborene Komponist in diesem Trubel die Großform fast als sicheren Ort der Zuflucht im Blick behält und somit verschiedene Sichtweisen durchhörbar bleiben. Ekkehard Klemm wahrte vom Pult aus die Übersicht - in einer manchmal doch die Lautstärkegrenzen des Saales sprengenden Darstellung konnte er sich auf die engagiert mitgehenden studentischen Ensembles ebenso verlassen wie auf ein souverän sprechendes, singendes und auch schreiendes Solistenquartett - neben Julia Böhme, Falk Hoffmann und Carl Thiemt überzeugte vor allem die Sopranistin Romy Petrick, die als Gast einzige auch noch die Doppelaufgabe mit der ebenso ansprechend ausgeführten Mozart-Solopartie auf sich nahm - diese Leistung war außergewöhnlich.
1. Festkonzert zum 20jährigen Bestehen der "Sinfonietta Dresden"
20 Jahre Sinfonietta Dresden - ein "normales" Jubiläum? Sicher nicht, wenn man bedenkt, mit welchen Schwierigkeiten freie Ensembles auf dem Markt in Zeiten knapper Kassen zu kämpfen haben. Die Liebe zum Musizieren im Ensemble trieb die kleine Truppe um Olaf Georgi in den 90er Jahren an - der Enthusiasmus ist geblieben, manche entstandene Sorgenfalte wieder geglättet. Unzählige der oratorischen Aufführungen in Dresden wären ohne das Ensemble nicht möglich gewesen, dazu gestaltete man eigene Konzertreihen und kümmerte sich mit Elan vor allem um die zeitgenössische Musik aus Sachsen und Osteuropa, aber auch die Wiener Klassik blieb eine Konstante im Repertoire.
Insofern glich das erste von vier Festkonzerten, die Sinfonietta Dresden anlässlich des Jubiläums in diesem Jahr gibt, einer klingenden Rückschau, zudem war für dieses erste Programm der Dirigent Milko Kersten eingeladen, der die Arbeit des Ensembles lange Zeit geprägt hat. In der Dreikönigskirche fanden sich viele aufmerksame Zuhörer ein - das Festprogramm bot reichhaltige musikalische Abwechslung. Zu großen Festreden ließ man sich nicht hinreißen, stand doch die Musik im Mittelpunkt - das war bescheiden und sympathisch zugleich, aber eben auch Markenzeichen des Ensembles, deren Programme immer schon so sorgfältig gestaltet waren, dass die Musik selbst zu sprechen imstande ist.
Die erste Konzerthälfte war von Wolfgang Amadeus Mozart bestimmt, hier schon wurde die Entdeckerlust offenbar: Anstelle eines bekannten großen Werkes entschied sich Kersten für sechs "Deutsche Tänze" und zwei Konzertarien und trat danach den lebendigen Beweis an, dass auch vermeintlich mit flinker Feder geschriebene Gelegenheitswerke zu einigem Staunen verleiten können. Dass ein schnöder Achttakter eine Fundgrube zu vielerlei Spielerei und musikalischem Witz sein kann, zeigte Sinfonietta Dresden in den Tänzen vortrefflich. Kersten musste - ein augenzwinkernder Beweis für die Flexibilität kleiner freier Ensembles - im letzten Stück selbst im Schlagzeug aushelfen. Die Sopranistin Marie Friederike Schöder verlieh den beiden Konzertarien "Mia speranza adorata" und "Bella mia fiamma" gehörigen Biss, damit deutlichen Charakter und beeindruckte durch sichere und schön geführte Koloraturen - Orchester und Solistin hatten diese Kleinode sorgsam ausgearbeitet und glänzten sowohl in den leisen Tönen als auch in der sich bis zum letzten Ton steigernden Dramatik von "Bella mia fiamma".
Passend eingebettet zwischen die beiden Arien erschien Silke Fraikins "Grazioso 222" - ein von der Sinfonietta 2008 uraufgeführtes Werk der Dresdner Komponistin, das sich explizit mit der im Titel genannten Ausdruckshaltung mozartscher Musik befasst und in vielfachen Ausfransungen, Abbrüchen und Überlagerungen die bekannte Klangwelt wie in einem Prisma von der heutigen Zeit aus betrachtet. Wiederbegegnen konnte man nach der Pause auch der Musik des 2002 verstorbenen rumänischen Komponisten Tiberiu Olah, mit dem das Ensemble eine besondere Beziehung verbindet. Seine "Sinfonia Concertante" für Flöte, Klarinette und Streicher (Solisten Olaf Georgi und Georg Wettin) zeigt eine sehr eigene Klanglandschaft zwischen auskomponierten Flächen und sich immer wieder ornamentiert steigernden und abebbenden Wellen der beiden fast verschmelzenden Soloinstrumente.
Dass eine Sinfonie von Ludwig van Beethoven den hervorragenden Konzertabend beschloss, machte schon fast Hunger auf eine neue Konzertreihe - denn so wie Milko Kersten die 2. Sinfonie D-Dur interpretierte, wäre man gespannt auf Weiteres. Oft wird dieses Stück gar nicht erst auf das Programm gesetzt und ihm eine fadenscheinige Konventionalität bescheinigt. Wenn aber wie in dieser Lesart die Sforzati im 1. Satz so stechend, der zweite Satz so kantabel und flüssig, das Scherzo differenziert und das Finale schlicht mitreißend musikantisch ausgeführt werden, dann lösen sich diese Vorbehalte schnell in Luft auf. Der in diesem Konzert sichtlich stolz und mit Freude aufspielenden Sinfonietta gebührt Respekt und Glückwunsch für zwanzig Jahre lebendige Musikpflege in der Stadt, davon wird man sich in diesem Jahr bei den drei folgenden Festkonzerten und etlichen weiteren chorsinfonischen Terminen überzeugen können.
Alexander Keuk
weitere Festkonzerte: 20. September, 2. Oktober, 6. Dezember
(siehe
Homepage)
Zum 70. Geburtstag: Gesprächsabend mit Wilfried Krätzschmar an der Musikhochschule
Unter dem Motto "Akribie und Leidenschaft, oder: Kunst ist schön - macht aber viel Arbeit" lud die Hochschule für Musik am Dienstag zu einem Gesprächsabend mit dem Komponisten und ehemaligen Rektor des Institutes Wilfried Krätzschmar anläßlich seines 70. Geburtstages ein. Mit dem amtierenden Rektor Ekkehard Klemm saß da nicht nur der Kollege qua Amt als Gesprächspartner auf der Bühne, sondern ebenso der ehemalige Schüler und Komponist, zudem hat Klemm als Dirigent wichtige Werke Krätzschmars wie die "Schlüsseloper" (2006) oder "fragmentum" (2012) zur Uraufführung gebracht.
Krätzschmars Musik stand im Vordergrund der zweistündigen Veranstaltung und mit vielen Komponistenkollegen und Weggefährten im Auditorium bewegte man sich auf mit den Musikbeispielen zwar auf bekanntem Terrain, doch mit den einführenden Worten des Komponisten konnten die Stücke und ihre Aufführungsumgebung gleichsam neu- und wiederentdeckt werden. Zudem gab es wertvolle Einblicke in das Musikleben vor der Wende, in welchem sich Aufführungsbedingungen, ästhetische Diskussion und Rezeption anders darstellten als heute - Krätzschmar stellte aber auch fest, dass die Orientierung junger Komponisten paradoxerweise heute schwieriger ausfallen muss.
Der kurze Exkurs "Wie verhalte ich mich als Komponist in einer Orchesterprobe?" hingegen war von zeitloser Qualität. Nur zu mutmaßen ist allerdings, wie heute das Publikum auf Krätzschmars 1. und 2. Sinfonie reagieren würde - sein sinfonischer Erstling rief 1979 in Dresden einen Publikumsskandal hervor. Beiden auch in Tonbeispielen vorgestellten Werken wäre dringend eine Wiederaufführung zu wünschen, weniger weil etwas aufgearbeitet werden müßte, sondern weil die Begegnung mit Krätzschmars Musik in jeder Hinsicht bereichernd und intensiv ist. Im Gespräch musste man sich schon aus Zeitgründen auf wenige große Werk-Stationen in Krätzschmars OEuvre beschränken.
Über die 1983 in Leipzig uraufgeführten oratorischen Heine-Szenen, die - obwohl Krätzschmar lediglich des Dichters Worte zu einem Textbuch formte - aufgrund ihrer musikalisch sorgfältig gesetzten Dornen zwischen Idylle und Abgrund oder "Abgründigkeit" ebenfalls öffentliche Erregung erzeugten, ging es in einem großen Bogen zum ersten Bühnenwerk, der 2006 an der Musikhochschule uraufgeführten "Schlüsseloper", einer Burleske über Macht und Ohnmacht, deren Aktualität sieben Jahre nach der Uraufführung fast mit einem leisen Schrecken festgestellt werden musste.
Bevor der Präsident der Sächsischen Akademie der Künste, Peter Gülke, in seinem Schlusswort dankbar und sehr genau beschrieb, wie Krätzschmar Aufgaben, "die auf einen zurollen" mit Demut und Noblesse zu lösen vermag, gab der Komponist einen Ausblick auf gegenwärtiges Schaffen - es ist zu hoffen, dass auch die in Entstehung begriffene 5. Sinfonie in heimatlicher Umgebung erklingen wird und somit nicht nur neugierige Protagonisten für die musikalische Gegenwartskunst gefunden werden, sondern Krätzschmar damit auch für sein Wirken in der Stadt gewürdigt wird. Am Ende der Veranstaltung stand eine Uraufführung - "Neun späte Bagatellen" für Violine und Klavier, entstanden 2007/2008, lösten klingend das Motto des Abends ein: Alwyn Westbrooke und Torsten Reitz setzten sich für dieses ebenso akribische wie leidenschaftliche Werk, das den Aphorismus der Bagatelle unter das kompositorische Brennglas nahm, überzeugend ein.
Wolfgang Rihm im Konzert und im Gespräch an der Musikhochschule
Der diesjährige Capell-Compositeur Wolfgang Rihm weilte fast eine Woche in Dresden, um Aufführungen seiner Werke in der Semperoper und an der Hochschule für Musik beizuwohnen. Traditionell stellt sich der Capell-Compositeur im Rahmen von Veranstaltungen von KlangNetz Dresden und der Sächsischen Akademie der Künste auch in Workshops vor - Rihm arbeitete mit den Kompositionsstudenten im Unterricht, besuchte Proben und sprach am Freitag mit Peter Gülke und Jörn Peter Hiekel über Komposition und Musikdenken.
In dem zweistündigen, sehr gut besuchten Gespräch konnte man tiefe Einblicke in Rihms Kompositionswerkstatt gewinnen und gleichzeitig Referenzen zur musikalischen Tradition feststellen. Wenn Rihm sich selbst bei der Arbeit als "Protokollant einer Spannungsübertragung" sieht, verrät das schon viel über eine Einstellung, die zwar das Element und die Idee proklamiert, aber viel mehr Interesse am Verlauf zeigt. Kriterien entstehen da durch Vergleich, aufgebaute Feindbilder dienen zur Schaffung des eigenen Standpunktes; der Schaffensprozess selbst, so Rihm, gleicht einer "Hege" und ist im günstigsten Fall von Vertrauen und Respekt - und natürlich langer Erfahrung im Umgang mit der Materie Musik - gekennzeichnet. Die Leidenschaft des Musikschaffenden ist dem 62jährigen Rihm dabei an den Augen abzulesen: seine vielen Tätigkeiten und Engagements als Lehrer und Juror etwa bringen in heutzutage in die Position, ständig die Rückkehr an seinen Schreibtisch organisieren zu müssen.
Die Werkschau in Dresden wird Rihm jedoch sehr erfreut haben - am Sonnabend musizierten Studenten der Musikhochschule einen ganzen Kammermusikabend mit seinen Werken. Obwohl nur vier Stücke aus verschiedenen Schaffensperioden auf dem Programm standen, war die Auswahl doch so beziehungsreich, dass man einen sehr charakteristischen, geschlossenen Eindruck erhielt. Zudem überlagern sich in verschiedenen Werkzyklen Formen und Ideen, die Rihm einem übergeordneten work-in-progress gleich immer wieder aufgreift, übermalt, weiterentwickelt oder neuen Widerparts zur Diskussion stellt. Diese Erkenntnisse konnten aus überzeugenden Aufführungen heraus entstehen, da die Studenten bestens präpariert waren.
Man machte keine Zugeständnisse: das 12. Streichquartett aus dem Jahr 2002 etwa gehört zum technisch Schwersten, was Rihm überhaupt in dieser Gattung komponiert hat. Ein polyphones Dickicht tat sich da auf, und trotz permanentem Aktionismus und einer Art exaltierten Rhetorik in allen vier Instrumenten schafften die Musiker eine leicht gedämpfte, fast "gedackte" Atmosphäre herzustellen. Das war ebenso spannend nachzuvollziehen wie Elena Rubios Parforceritt in "Über die Linie VII", eine Reise in die "Wunsch- und Angstsphäre des Melos" (Rihm). Das zwanzigminütige Solostück ging die Geigerin mit einer adäquaten Besonnenheit an, die dem enormen Spannungsbogen des Stückes keinerlei physische Dramatik beigab - so schwang die Musik frei.
Das Trio "Chiffre IV" war als konzentriert dargebotener Auftakt ebenso geeignet wie das größer besetzte Ensemblestück "Chiffre II - Silence to be beaten" als vulkanischer Ausbruch zum Ende des Konzertes. Nicht nur der anwesende Komponist zeigte sich hochzufrieden - die Musiker dürften ebenso eine starke "Rihm-Erfahrung" aus dieser Woche mitnehmen wie die Zuhörer, die Gelegenheit bekamen, den "Kontinent Rihm" einmal hautnah und musikalisch intensiv zu erleben.
(31.3.14)