Rezensionen

Sonntag, 10. Oktober 2010

An der Grenze

Ensemble Courage spielt Michael Wertmüller und Klaus Lang

Nach einigen Erkundungen im Musiktheater, in der kammermusikalischen Behandlung des DrumSets und in der rockigen Betrachtung zu Andy Warhol geht das Tonlagen-Festival in Hellerau nun aufs Ganze: "Avant-Core" war das Konzert am Mittwoch übertitelt - "core" in seiner Bedeutung von "knallhart" oder "bis ins Mark" ist hier wörtlich zu nehmen, denn viel zu gediegen klingt der gute alte Avantgarde-Begriff, um die Wirkung des Konzertes zu beschreiben.

Das Ensemble Courage, längst den Kinderschuhen entwachsen und nun vor allem im Dunstkreis von Berlin und Dresden auf Spürsuche nach spannenden Entwicklungen in der Neuen Musik, traute sich glatt, Stücke von Michael Wertmüller und Klaus Lang in ein Konzert zu packen. Für den, der die beiden Komponisten nicht kennt, nutzt leider ein plastischer Vergleich wenig, denn beide muss man in ihrer Grenzauslotung und stellenweise auch in ihrem beabsichtigten Grenzübertritt nebeneinander erlebt haben.

Michael Wertmüller ist Schlagzeuger und Komponist; er schreibt Partituren, die Interpreten und Hörer vor allem in rhythmischer und dynamischer Hinsicht überfordern. Stellt man sich dieser Überfrachtung, öffnet sich schnell eine zweite Ebene: in allem Schwindel der Tempi und Rhythmen und in der permanenten Dichte der Musik offenbart sich eine spielerische Virtuosität, die stellenweise sogar frei schwingt. An diesen Stellen enthebt sich die Musik ihrer offen exerzierten Gewalt-Tätigkeit. In der Uraufführung "in time. next step!", waren diese Momente ebenso zu beobachten wie in "time - involved in processing", allerdings gibt es auch lange nach dem Konzert noch erhebliches Potenzial, die entgegengeschleuderten Noten zu einem Eindruck zu formen,

insbesondere an den Nahtstellen zu maschinell anmutenden Prozessen, die auch die Frage nach dem Sinn des Interpreten aufwerfen. Wer Neue Musik als extrem empfindet, hat hier den Exzess vorgesetzt bekommen. Fragen werfen die Stücke vor allem in der Ausdrucksqualität auf, aber vielleicht ist auch hier eine neue Syntax vonnöten, die die Materialmasse sinnvoll erfasst. Der noch endgültigste Gedanke ist, dass man einer exzellenten, hochseriösen Interpretation zuhören durfte: Titus Engel, das Ensemble Courage und das Gast-Trio "Steamboat Switzerland" mit Hammond-Orgel, Bass und Percussion versuchten auch noch das Unmöglichste überzeugend zu realisieren, wohl wissend, dass körperliche und geistige Grenzen dabei hart beansprucht werden.

Dass diese Grenzerfahrung beim anderen Extrem, der an der unteren Hörbarkeitsschwelle schrammenden Stücke von Klaus Lang, ganz anders gelagert ist, ist klar. Dennoch wirkte die Gegenüberstellung gut, denn auch Lang überbeansprucht den Hörer, allerdings mit einer Zeitbetrachtung in der Gegenrichtung: verschwommen und verwischt ahnt man in der Uraufführung "Schnee im August" (der Titel hier als Relikt einer verzweifelten Was-Passiert-da-Beschreibung?) Details herauszuhören und findet trotzdem selten ein Ziel oder einen Halt in der Musik. Es ist die Suche nach genau dem Halt, den Wertmüller einem in der nächsten Viertelsekunde unter dem Boden wegreißt - intensiver kann Musik kaum wirken.

Nach diesem außergewöhnlichen Konzert gab es eine Impro-Zugabe der Schlagzeuger im Dalcroze-Saal bevor ein Live-Act den Abend versöhnlich und tanzbar beschließen sollte. Nur schade, dass sich die Größe von Felix Kubin nicht bis in Dresdner Breitengrade herumgesprochen hat, nur wenige Liebhaber genossen dieses DJ-Set der besonderen Art.

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Hilary Hahn

hat ne neue Platte. Ich habe sie ja vergöttert für ihre Schönberg-Aufnahme, auch der Sibelius auf der selben CD ist wunderbar. Frühere CDs mit Spohr und Brahms sind ebenfalls hörenswert. In der letzten Zeit hat meine Begeisterung aber eher abgenommen. Die jüngste Aufnahme mit Bach-Arien zusammen mit Matthias Goerne und Christine Schäfer hat mich eher erschrocken angesichts eines reichlich antiquierten und undifferenzierten Stiles, mit dem sich Hahn den Bach-Stücken nähert. Nun frohlocken wir, denn eine neue CD erscheint just, diesmal mit dem Tschaikowsky-Konzert und einer Weltpremiere von Jennifer Higdon. Aber ach, die amerikanische Komponistin enttäuscht schon im Trailer mit einer derart flachen Musiksprache, dass man weit hinter Prokofieff und Milhaud greifen muss, um ähnliche forgotten pieces zu finden - dumm nur: das ist "Neue Musik", angeblich. Da ich die ganze CD noch nicht gehört habe, schweige ich zu den kurzen Tschaikowsky-Ausschnitten...noch.



Laut, lauter - subtil.

DrumSet-Konzert bei den "Tonlagen" Hellerau

Im Bereich der Neuen Musik sind auf den Instrumenten besondere Fertigkeiten gefragt. Wer sich als Geiger in der romantischen Musik des 19. Jahrhundert bestens auskennt, darf bei anstehenden Uraufführungen den Begriff Virtuosentum noch einmal neu definieren oder in Frage stellen. In den derzeit aktiven Neue-Musik-Ensembles finden sich für jedes Instrument diese Virtuosen, die für beständig Neues in unseren Klang-Horizonten sorgen. Komponisten betrachten es daher oft als Ehre, für musikFabrik oder Ensemble Modern ein Stück schreiben zu dürfen: die Interpretationen sind herausragend und intensiv.

Die heimlichen Stars dieser Ensembles sind oft die Schlagzeuger, denn Rhythmus und Schlagwerk-Klangfarben sind stets wichtige Parameter der Kompositionen. Grund genug, einmal vier Schlagwerker zum Tonlagen-Festival nach Hellerau einzuladen. Und zwar gemeinsam, als Quartett. Das ist ungewöhnlich genug, noch interessanter wurde der Ansatz dadurch, dass man sich (fast) auf ein Drum-Set pro Spieler beschränkte. Diese Reduzierung war aber gleichzeitig genau die subtile Differenzierung, die für ein herausragendes, sinnliches Erlebnis im Konzert sorgte. Denn mit den unterschiedlichen Schlag-, Reibe- und Wischtechniken und den Anforderungen der Komponisten war für reichlich Abwechslung gesorgt.

Lukas Schiske (Klangforum Wien), Rainer Römer (Ensemble Modern), Dirk Rothbrust (musikFabrik) und Gerrit Nulens (Ictus) hatten sich je ein Solostück zurechtgelegt. Zu viert wurde die Uraufführung von Oscar Bettisons "Four Drums for Dresden" bestritten, ein Stück, das sauber gearbeitet war und immer wieder zu einem Refrain mit reizvollen Becken-Sounds zurückkehrte - die vier Sets vereinigten sich mehrfach zu einem einzigen Instrument. Zum ersten Mal erklang auch Sven-Ingo Kochs "Durchaus phantastisch und leidenschaftlich vorzutragen", allerdings nutzte dieses mit Dante und Schumann angereicherte Solo mehr Percussion-Instrumente als nur das reine Drum-Set und bot eher softe und fragile Ausdruckswelten feil, die Dirk Rothbrust hervorragend herausarbeitete.

Gerrit Nulens Solobeitrag war ein Stück Körper-Kultur von Francois Sarhan, wobei die auf den Körperteilen perkussiv-vokal vorgetragene Gebrauchsanweisung eine eher beängstigende Subschicht offenbarte. Rainer Römer glänzte mit einem diffizil-sinnlichen Maracas-Solo von Javier Alvarez und Lukas Schiske brachte eine eigene Komposition ein - schließlich sind Drummer als Improvisatoren zumeist auch innovativer Geister, die beständig an eigenen Fertigkeiten und an Klangerweiterung feilen. Schiskes "Maschinencode R3G7T" war denn auch ein schwindelerregender Ausflug in die Welt von Rotationen, Wellen und maschinenartigen Abläufen.

Das ohne Pause zu einem Ganzen modellierte Konzert fand mit Frank Zappas "Black Page" seinen Abschluss - leichtfüßiger dürfte man das vertrackte Werk wohl selten gehört haben. Am Ende war man von den vier sympathischen Herren schlicht begeistert und hätte gern noch den einen oder anderen Xenakis als Zugabe gehabt. Ob allein oder im Ensemble - sie werden mit Sicherheit nach Hellerau zurückkehren.

Dienstag, 5. Oktober 2010

Hammerschlag zum Auftakt

Kontrastreiche Konzerte bei den "Tonlagen" in Hellerau

Die 2. Dresdner "Tonlagen", das Festival der zeitgenössischen Musik in Hellerau sind eröffnet. Am vergangenen Wochenende fanden bereits drei Veranstaltungen statt, dazu ging tagsüber in der Musikhochschule Dresden das Symposium des Festivals über die Bühne. Dessen Leitthema "populär - elitär" wurde dort theoretisch abgehandelt, praktisch konnte man sich bei den ersten Konzerten auch darüber seine Gedanken machen.

"Jacob's Room", ein Musiktheater des amerikanischen Komponisten Morton Subotnick (*1933) wurde als Auftakt ausgewählt, in jeder Hinsicht war dies ein Stück, was im ungewöhnlichen Einsatz der Materialien und in einem diskutablen und häufig überfordernden Umgang mit Musik, Text und Bühne die ganze Kraft des Zuhörers erforderte. Für dieses Gastspiel eines der Pioniere elektronischer Musik des 20. Jahrhunderts hätte man sich allerdings ein rappelvolles Haus gewünscht. Intendant Dieter Jaenicke gelang mit der Subotnick-Oper ein Hammerschlag zu Beginn des Festivals, der fernab der bloßen Aufführung eigentlich einer Vor- und Nachbereitung bedurft hätte.

Eine Situation des Alleinseins bildet den Kern des Werkes, in der sich der Protagonist Platon lesend seiner Vergangenheit als Überlebender eines Völkermordes bewusst wird. Das hätte ein hochinteressanter Ansatz sein können, wenn Subotnick es vermieden hätte, nach einer eigentlich spannenden Einleitung in einer Wort-Schlacht von reichlich über einer Stunde Dauer genau diesen Schrecken über dem Zuschauer auszugießen. Beim allzu plötzlichen Ankommen in der Realität bricht das Stück schließlich kommentarlos ab. Damit stellt sich für den Zuschauer genau die Alleinsein-Situation ein, allerdings nunmehr überfrachtet mit der Bedeutungslastigkeit der Themen der Welt, die Subotnick uns um die Ohren geworfen hat: Liebe, Schuld, Tod, Erinnerung, Glaube, Macht wären reizvolle Kompositionsanlässe gewesen, doch Subotnicks kaum den Stil der typischen "Minimal Music" verlassende Behandlung eines Ensembles aus vier Celli und Keyboard war ebenso anstrengend und wie die permanent extrem (und damit im Einzelnen zu charakterlos) geführten Singstimmen. Regie (Mirella Weingarten) und Video (Lillevan) verhielten sich auf der stets kippenden Viereck-Bühne behutsam, einzig Jacob hielt sich ständig den Kopf: die Schuld ist ebenso unaushaltbar wie das Stück selbst, das an seiner eigenen Dramaturgie scheitert.

Am Sonnabend dann gastierte die Dresdner Philharmonie in Hellerau, bedauerlicherweise erlaubte sich das ansonsten treue Philharmoniepublikum einen freien Tag und verpasste somit einen vergnüglichen Abend. Der Komponist, Dirigent und Sänger HK Gruber aus Wien zeichnete für das abwechslungsreiche Programm verantwortlich und startete mit der Ursonate von Kurt Schwitters. Damit war die Reiseroute klar: Ernst und Spaß tanzten im Folgenden fröhlichen Reihen und in dieser Einbettung bekam auch das Fagottkonzert "Zefiro aleggia --- nell'infinito" von Olga Neuwirth mit dem grandiosen Solisten Pascal Gallois plötzlich eine schillernde Bildhaftigkeit. Sowohl HK Grubers Johann-Strauss-Alptraum "Perpetuum Mobile / Charivari" als auch das Pandämonium "Frankenstein!!" entfachten bei den Philharmonikern ungeahnte Kräfte sowohl der Virtuosität des exzessiven Nachschlages als auch in der Fertigkeit auf zahlreichen Nebeninstrumenten. Das Glatteis zwischen Konvention, Tradition, Satire, Klamauk und Doppelbödigkeit wurde von Gruber und den Musikern wunderbar ausgekostet, zudem verließen die Philharmonie nie ihr absolut konzentriertes hohes Niveau der Interpretation.

Im Dalcroze-Saal stellte sich dann zu später Stunde noch das Dresdner "New Composers Collective" mit Thomas Zoller, Sascha Henkel und Gabriel Hahn vor. Die drei Musiker schaffen es tätsächlich, sich zwischen alle Stühle zu setzen und in sorgfältiger Stückkonzeption mal den Freejazz hereinzuwinken oder minimalistische Klangerforschung zu betreiben, damit bleiben sie originell und verleugnen auch nicht den Experimentcharakter ihrer Stücke. Eines ist sicher: die starken Wechselbäder des Kontrastes werden auch in den kommenden Veranstaltungen der Tonlagen spannende Basis der Erlebnisse sein.

Sonntag, 3. Oktober 2010

Fünfmal Höchstspannung

elole-Klaviertrio konzertierte im Leonhardi-Museum

elole-Konzerte fordern zumeist den ganzen Zuhörer. Man glaubt kaum, dass das Trio erst seit neun Jahren besteht, hat man doch in dieser Zeit so viele Konzerte mit immer neuen, immer spannenden Stücken gehört und konnte so seinen Horizont beständig erweitern - der Lexikadefinition, dass die Gattung Klaviertrio ins 19. Jahrhundert gehört widersprechen die drei Dresdner Musiker mit der vehementen Lebendigkeit ihrer Aufführungen. Im Leonhardi-Museum präsentierten Uta-Maria Lempert (Violine), Matthias Lorenz (Cello) und Stefan Eder (Klavier) nun einen Abend mit Werken von fünf Komponisten - die Landmarken reichen von Wien über Dresden und Berlin bis nach Düsseldorf.

Ganz neue Werke gab es von Erik Janson und Christoph Theiler zu hören, eine kraftvolle Klammer um das ganze Konzert war durch die Werke von Peter Köszeghy und Carsten Hennig geschaffen. Hier war es eine offen hervortretende Emotionalität, die sowohl in den Kompositionen selbst angelegt ist als auch die Wirkung beim Zuhörer beschreibt. Schnell ist man in Köszeghys "Utopia" über den denkenden Nachvollzug hinaus und jagt den Ausbrüchen, Stauungen und rhythmischen Verschiebungen hinterher. Der Ausnahmezustand, in dem der Zuhörer hinterlassen wird, mutet einem musikalischen Schock an, dem sich nach und nach die gehörten Ereignisse wieder zuordnen lassen. Das ist Arbeit für Kopf und Herz, macht aber Spaß, wenn man feststellt, wie sensibel und klassisch zugleich dieses wütende Stück am Ende doch ist.

Michael Flade war doppelt präsent: Sein "Spiel: seltsam attraktiv" erklang in zwei Versionen. Exakte Notation und interpretatorische Freiheit mischten sich hier wirklich auf einer spielerischen Ebene, die Leichtigkeit erzeugte und vor allem die einzelnen Elemente frei schwingen ließ. Bei Erik Jansons "Bhagavat Gita-Fantasie" war man allerdings ohne jegliche Ausführung über diese altindische Schrift recht alleingelassen mit der Musik, auch Jansons Textauswahl war nicht veröffentlicht. So teilte sich zwar die Faszination und der schöpferische Umgang des Komponisten mit der Schrift mit, aber genauere Beziehungen oder Deutungen waren nicht erfassbar. Losgelöst vom Hintergrund hörte man ein Werk, das von sorgfältiger struktureller Arbeit bestimmt war, was sich etwa in verschieden verschachtelten Zeitebenen niederschlug.

Christoph Theilers "Terminal" hatte die umgekehrte Problematik: der Komponist beschrieb im Programmheft eine äußerst spannende konzeptuelle Ausgangssituation (das Leben, ein Warten), formte aber in diesem kreativen Wartezustand lediglich eine Art Suite aus verschiedenen bagatellartigen Stücken, die erst zum Schluss hin stringenter wirkte. Carsten Hennigs "desire III" blieb es dann vorbehalten, das finale Ausrufezeichen zu setzen: mit rotierenden Metallscheiben und virtuoser Instrumentalbehandlung wurde die Welt des Geldes und der Macht und die musikalische Avantgarde frech in einen Topf geworfen - es wurde ein tolles Stück draus. Und wer genau diese künstlerischen Überraschungen liebt, sollte sich auch das nächste Konzert vormerken: am 28. November spielt das Trio im Kulturrathaus.

Ich will das Rad nicht neu erfinden

Interview mit Morton Subotnick anläßlich der Aufführung von "Jacob's Room" in Dresden


Mit der deutschen Erstaufführung des Musiktheaters "Jacob's Room" des amerikanischen Komponisten Morton Subotnick (*1933) wird am heutigen Freitag im Festspielhaus Hellerau das Dresdner Festival der zeitgenössischen Musik "Tonlagen" eröffnet. Der Komponist gilt als einer der Pioniere der elektronischen Musik in den USA, Alexander Keuk sprach vor der Premiere mit ihm.

Mr. Subotnick, wer ist dieser Jacob, was hat es mit dem Raum auf sich?

Oh, da muss ich etwas ausholen. Als ich damals mit dem Stück anfing, suchte ich nach einem Text und stieß auf eine Passage in Virginia Woolfs "Jacob's Room" - der Protagonist kommt nach Hause aus dem Britischen Museum, das ihm die Welt und die Zivilisation zeigte. Er ist allein und liest Platon, ist in seiner eigenen Welt und merkt erst am anderen Morgen beim Öffnen der Vorhänge, dass es geregnet hat - er ist zurück in der Realität. In meiner Geschichte ist Jacob ein Holocaust-Überlebender, der zurück auf sich selbst geworfen ist. Man sieht: der Mensch kann alles, das Gehirn macht alles möglich, aber es kann auch einen schlechten Job machen und alles zerstören, sogar die Erinnerung.

Also eine Ausnahmesituation, ein Focus auf das Individuum?

Ja, zum einen hatte er den Kontakt zur Vergangenheit verloren, und hier kommt ihm alles wieder ins Gedächtnis. Das andere, was mich auch interessiert, ist nicht so sehr die Schuldfrage, die der Überlebende sich stellt, aber das Alleinsein steht im Zentrum des Stückes - es ist schmerzvoll, das Alleinsein zu erleben, die Erfahrung der Gegenwart zu erleben. Es ist an Dir, die Dinge besser oder anders zu machen, aber das Angesicht dessen kann sehr schmerzvoll sein.

Alleinsein ist hier also nicht als Einsamkeit gemeint?

Nein, eher als Gegensatz zu einer Masse oder Gruppe, die schreckliche Dinge tun kann. Meine Oper bietet auch keine Lösung, es gibt kein Happy-End oder dergleichen, aber vielleicht ein Angebot für die Leute, sich mit dem Thema zu beschäftigen - verändern will ich niemanden. Aber möglicherweise ist es ein interessanter Ansatz, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, in jeder Hinsicht.

Wie kam es zu diesem doch existentiellen Stück in Ihrem OEuvre?

Es hat eine lange Geschichte, begann als Auftrag für Sopran und Streichquartett, dann sollte es szenisch realisiert werden, schließlich wurde eine Kammeroper daraus, die 1993 realisiert wurde, aber das Stück war noch nicht fertig. Jetzt habe ich viel daran gearbeitet für die Aufführung in Bregenz und jetzt in Hellerau, nun bin ich soweit zu sagen, das Stück ist fertig, aber mir ist auch wichtig zu sagen, dass der ursprüngliche Geist des Werkes immer noch enthalten ist.

Welche Möglichkeiten nutzen Sie für die Oper, Sie sind ja ein Komponist, der sowohl elektronische als auch instrumentale Möglichkeiten gleichermaßen innovativ nutzt?

Es ist jetzt eine Fassung mit Sängern und vier Celli - ich könnte 68 Celli haben für den Klang, den ich anstrebe, nun sind es aber vier - dazu Elektronik und eine sehr erweiterte Vokalbehandlung. Der Frage nach dem Menschsein, die hier aufgeworfen wird, versuche ich zu begegnen, indem ich wieder zurück zur "Kreatur" komme und erforsche, welcher Ausdruck etwa der Lautäußerung möglich ist - bedenken Sie, dass in unserem Hirn immer noch ein reptilischer Teil vorhanden ist. So gibt es sowohl tiefe brummende Geräusche aus dem Bauch heraus als auch Zirpen gleich einer Schlange. Ich habe versucht eine Art "creatureness" zu erzeugen.

Sie gelten als einer der Pioniere der elektronischen Musik, haben schon 1963 einen analogen Synthesizer entwickelt. Dennoch haben Sie auch Instrumentalmusik geschrieben?

Erst kam die Elektronik, ich wollte etwas Neues schaffen, was noch nie da war, der Buchla-Synthesizer gab mir die Möglichkeit dazu, Klänge selbst zu erfinden. Später kam ich dann zurück zur instrumentalen Komposition, später auch zur multimedialen Musik und arbeitete dort die Erfahrungen ein.

Heute galoppiert die Technik, wir schreiben bereits an einer Musikgeschichte der elektronischen Musik, wie beobachten Sie die Szene heute?

Wir sind doch erst am Anfang! Fragen Sie mich in 60, 70 Jahren noch einmal - die Synthesizer wurden ja damals nicht entwickelt um wohltemperierte Musik darauf zu spielen, da gibt es oft ein Missverständnis. Die Technik hat sich zwar enorm weiterentwickelt und natürlich arbeiten die DJs heute damit, das ist auch gut so. Aber es sind in der Kreativität noch so viele neue Wege zu erschließen, die weit jenseits unseres derzeitigen Gebrauchs und unserer Vorstellungskraft von Computern liegen.

Wie ist dann Ihre Beziehung zur Tradition?

Ich habe mal gesagt, Tradition sollte man vergessen. Das war vielleicht ein bißchen vorlaut, heute würde ich sagen, natürlich sollten wir damit umgehen, Tradition ist wundervoll. Aber schauen Sie sich ein kleines Kind an: das ganze Leben hat es vor sich - schauen Sie, wie es Dinge entdeckt und kreativ damit umgeht. Als 40jähriger schaut man vielleicht gerne zurück und liest die alten Bücher. Aber für mich ist es spannender nach vorne zu schauen.

Also suchen Sie auch heute noch nach der Innovation, dem Neuen in der Musik?

Ich will nicht das Rad neu erfinden. Aber man muss sich bewusst sein, der Zugang zu allem ist heute unheimlich leicht, aber das härteste ist, sich klarzumachen, was man will, wie man die Möglichkeiten sinnvoll verbindet. Vor hunderten von Jahren hat man das Wasser mit der Hand zum Mund geschöpft, was haben wir heute? (zeigt auf eine Wasserflasche) - wir sollten uns den Sinn unserer Tätigkeiten wieder bewusst machen.

Dienstag, 21. September 2010

Sinfonisch, konzertant und kommentiert

2. Zykluskonzert der Dresdner Philharmonie

In einem Interview äußerte ein bekannter Dirigent kürzlich, Brahms sei für die Orchester "das tägliche Brot". Wirklich sind die Werke des Komponisten dankbar und herausfordernd in allen Bereichen; sie demonstrieren die Kultur eines Orchesters und laden gleichzeitig ein, die Bandbreite des romantischen Ensembleklangs zu zeigen. Insofern ist der Brahms-Zyklus zu Beginn der Spielzeit bei der Dresdner Philharmonie mehr als nur bloße Gefälligkeit gegenüber dem Publikum. Zudem sollten die vier kleinen Uraufführungen neue Beziehungen zum Werk von Brahms eröffnen. Im vierten Beispiel am Sonnabend im 2. Zykluskonzert gelang das bei der "BRAHMSFARE" des Spaniers Alejandro Yagüe (geb. 1947) allerdings nicht.

Die Unentschlossenheit im Charakter der Komposition spiegelte sich auch in einer nicht sehr eindeutigen Interpretation wider; der Tonsatz war traditionell, weder die Brahms-Kommentierung noch ein Fanfarenduktus wollte sich mitteilen. Mit dem Stück konnte auch das Publikum nichts anfangen - ein recht müder Applaus war die Folge.

Im Mittelpunkt des Konzertes stand (nach einer krankheitsbedingten Absage im vorangegangenen Konzert) das Gastspiel von Nelson Freire mit dem 2. Klavierkonzert B-Dur. Auf diesen Markstein des romantischen Konzertes freute man sich, zudem Freire als überaus renommierter Brahms-Interpret gilt. Nach einer fast unauffälligen Einleitung startete Freire mit kernigem, robustem Spiel und grenzte die lyrischen Passagen der ersten beiden Sätze davon deutlich ab. Eine beseelte Partnerschaft mit Chefdirigent Rafael Frühbeck de Burgos und der Dresdner Philharmonie wollte sich dennoch nicht entwickeln, im Verlauf des Konzertes war die Suche nach diesem gemeinsamen Nenner dann auch zu oft offenliegend. Freire nahm sich viele Freiheiten in den Tempi, zog in Solopassagen und vor allem im Schlusssatz enorm an. Diese starken Charakterschwankungen vollzog das Orchester nicht mit - es fehlte an tiefergehender thematischer Ausgestaltung, Unstimmigkeiten in Tuttipassagen des Orchesters und am Schluss der ersten beiden Sätze gesellten sich hinzu. Im sehr zurückgenommenen Poco Adagio des langsamen Satzes blitzte dann plötzlich Noblesse auf, doch dem 4. Satz fehlte eine metrisch gestützte Ruhe. So blieb ein wenig geschlossener Eindruck, sowohl beim Pianisten als auch im sinfonischen Part.

Mit der Aufführung der 4. Sinfonie e-Moll Opus 98 endete der Brahms-Zyklus dieser Saison. Von der eher mühsamen Arbeit des ersten Konzertteils war nun nichts mehr zu spüren, Frühbeck de Burgos gelang es, das Orchester frei und temperamentvoll aufspielen zu lassen. Auffallend war wiederum der in vierfacher Verstärkung recht markige Holzbläserklang - trotz Verständnis für die akustischen Gegebenheiten im Kulturpalast verändert dieser Eingriff in die Partitur den Gesamtklang spürbar. Im Programmheft sollte zumindest auf die Originalbesetzung hingewiesen werden, denn mit der Verstärkung des Orchesterapparates seit Wagner und Strauss ging ja auch eine Differenzierung der Instrumentationstechnik einher, womit man Brahms mit bloßer Tutti-Verdopplung keinen Gefallen tut. Insgesamt war die Interpretation der 4. Sinfonie jedoch eine runde Sache: mit dem wunderbar feinsinnig musizierten Allegro giocoso und der von Frühbeck de Burgos mit vorwärtsdrängendem Impetus dargestellten Passacaglia am Schluss der Sinfonie gelang so ein überzeugender Ausklang des Konzertes.

Freitag, 17. September 2010

Ostrale - Eindrücke

Noch bis zum Sonntag ist die Ostrale 010 auf dem Schlachthofgelände an der Messe in Dresden geöffnet - man glaubt ja kaum, dass die Ostrale erst seit 2007 stattfindet, so sehr hat sie sich zum Schaufenster internationaler Kunst gemausert und so gut wird sie auch vom Publikum angenommen. Das Pfund der Ostrale ist ider Kunst-Raum innerhalb des Schlachthofgeländes. Charme versprühen die Futterställe nicht mehr, stattdessen scheinen sie der ideale Ort für zeitgenössische Kunst zu sein, die sich manchmal an bzw. in den Räumen regelrecht entzündet. Wenn es gar um Körperlichkeit oder Fleisch(es)Kunst geht, ist der Weg zu Objekten und Installationen nicht weit. Anderes atmet den Kontrast, findet die Nische oder seinen Frei-Raum.

In diesem Jahr gab es für mich nur zwei recht kurze Besuche, dennoch will ich auf einige Künstler hinweisen - zum Erinnern, aber vielleicht auch, um die Aufmerksamkeit zu fördern. Im Gesamtüberblick fällt die Ausgewogenheit zwischen den Genres auf, es ist für jeden etwas dabei und für Reibung ist gesorgt. Ein Raum in der Fettschwemme lädt zum Schmunzeln ein, der nächste beängstigt, ein dritter langweilt, der vierte erregt. So möchte ich Ausstellungen immer erleben.

[Alle hier gesetzten Links laden übrigens zum Stöbern und Kennenlernen der Künstler ein]

Musikalisches findet man auch, und diesmal waren die Töne der Ostrale eher entspannend: Michael Petermann von Weisser Rausch hatte bereits im letzten Jahr eine wunderschöne Orgel-Installation (hier ein kleiner Ausschnitt) im Sozialtrakt - nun wartete sein "Blödes Orchester" gar nicht blöd zur vollen Stunde mit einer Sinfonie auf. Küchenmaschinencharme der 60er und 70er zum Klingen gebracht.


Martin Müller (CH) wartete mit einer Installation aus Glaskörpern auf, die ebenfalls orgelähnliche Harmonien in eine Halle entluden. Hingegen ein optischer wie akustischer Alptraum die Kuckucksuhrenwand von Stephanie Hotz.


Eine 5,2m lange Posaune kreierte Dennis Tan und überließ dem Zuschauer die Klangvorstellung.


Weniger eindeutig war die Installation von Einautis Markunas, zu dessen Schuhen im Mehl etwas unmotiviert nebenher zeitgenössische Kammermusik erklang.


Wer zu gute Laune hatte, konnte sich draußen auf dem Hof von Benoit Maubreys "Rap Fields" beschimpfen lassen: Esshohl und Fukiou als Lautmalerei.

Und hier noch ein paar Hinweise auf starke Kunst:
- Sabrina Bautz an Crewdsons Inszenierungen gemahnende Fotos
- Michel Boekhoudt mit kräftigen Acrylbildern (siehe Website)
- Serge Cloots verstörende Facebook/youtube-Installation


- Giacomo Costas Unterwasser-Szenarien, die mich stark an Dusolliers Kurzfilm Obras erinnern
- Elke Daemmrichs phantasievolle, farbenfrohe Malerei
- Katrin Hanuschs rotierende Sonnenschirme
- Judith Heinsohns kraft- und gefühlvolle Installation, die auch Angst machte
- Ebenso angreifend herznah war die Fotoserie "Le grand voyage" von Christian Roosen, die einem kein Entrinnen läßt. Ein Besuch der Website lohnt sich, es sind hervorragende Momente und fotografische Erzählungen.

Es wäre noch viel mehr Gutes und Spannenes zu nennen, aber mit dieser Auswahl will ich es bewenden lassen.

Und auch das darf nicht fehlen: enttäuscht war ich von Kunstwerken, die als allererstes den Gedanken aufkommen ließen, "das ist ja genau wie..." - bestes Beispiel Jeffrey Isaacs Bush-Politmalerei, da ziehe ich Fabian Marcaccios documenta-Wand vor, die 2004 viel zeitnaher und heftiger wirkend war. Und zum Gähnen sind auch die ewig wiederkehrenden Raumirritationen in Form von Beulen, künstlich aufgerauten oder gelöcherten und verschobenen Wänden (Marten Schech). Dann doch bitte das Leben schichten, wie Veronika Schneider es in ihren Atemnot verursachenden Schichtungen überzeugend vormacht. Auch den von m.gitjes/bobok mit Texten, Bildern und Collagen vollgestopften Raum findet man auf fast jeder Kunstausstellung, nur der Künstler heißt jedesmal anders. Dass sich hinter dem bobok-Raum diesmal ein Schrei nach Liebe verbarg, nimmt man dann leider kaum noch wahr, denn die Schreierei steht zu sehr im Vordergrund.
Hat noch jemand Lust auf eine Partie Schach mit Martin Werthmann? Nicht?
Dann freuen wir uns auf die nächste Ostrale.

Donnerstag, 16. September 2010

Von der Baracke ins Schloss

Festkonzert in der neuen Aula des Landesgymnasiums für Musik

Einige Superlative sind schon angebracht, wenn es gilt einen Um- und Neubau zu feiern, der höchsten Ansprüchen gerecht wird. Ob das im Falle des Landesgymnasiums für Musik "Carl Maria von Weber" so sein wird, wird der laufende Betrieb zeigen. Für die Arbeits-, Lern- und Übebedingungen der musikalischen Schüler jedenfalls wurde im Vorhinein alles getan, um nicht nur Leistungen und Ergebnisse zu erzeugen, sondern einen Ort hervorzubringen, so Schulleiter Mario Zecher, an dem die Schüler sich gerne aufhalten, sich wohlfühlen.

Nur aus dieser Atmosphäre heraus kann in der Musik wie im Gymnasium kreative und gemeinschaftliche Arbeit entstehen. Dabei war vermutlich jegliche Steigerung der Bedingungen willkommen, denn das alte Schulgebäude stand auch für eine Schulform, die hoffentlich immer mehr der Vergangenheit angehören wird, so die Träger und Förderer Einsicht zeigen. Im Schülermund ist man "von der Baracke in Schloss" gezogen (das Internet-Kartenwerk google-maps hat den Umzug übrigens noch nicht mitbekommen...) - letztlich zieht das Landesgymnasium nun mit den künstlerischen Hochschulen in Dresden gleich, die ebenfalls in den letzten Jahren große Anstrengungen in dieser Hinsicht unternommen haben.

Drei Tage lang nun wurde das neue Gebäude an der Kretschmerstraße, das Haus des ehemaligen Martin-Andersen-Nexö-Gymnasium festlich eingeweiht. Am Sonntag beteiligte sich die Schule zudem am "Tag des offenen Denkmals" und wurde von reichlich Besuchern bevölkert. Neben Kantine, Übe- und Schulräumen entstand innerhalb des Altbaus die Aula neu, deren Inneres mit einer optisch gelungenen architektonische Mischung aus einem, modernen, funktionalem Konzertsaal und eben der Altbausubstanz mit den großen Fenstern zum Garten hin aufwartet. Neben den technischen Möglichkeiten, von Zeugnisverleihung über Orchesterproben (dafür kann man die Fenster noch mit ausfahrbaren Wänden verkleiden) bis hin zum voll bestuhlten Kammermusikkonzert ist vieles möglich.

Zwei Festkonzerte boten Gelegenheit zur musikalischen "Inbetriebnahme" und natürlich für die geladenen Gäste auch jede Menge Unterhaltung und einen Querschnitt durch das Angebot der Schule. So zeigten sich im Konzert am Sonntag Schüler, Lehrer und Ehemalige vom Solo bis hin zum Kammerensemble, von Mozart bis hin zu Jazz. Dem Geiger Florian Mayer blieb es vorbehalten, den - auch musikalisch virtuos in Erscheinung tretenden - Conferencier zu mimen, Katja Erfurth begleitete ihn mit tänzerischen, aphoristischen Erkundungen des Bühnenraumes. Wolfgang Hentrich und Heike Janicke, Konzertmeister der Dresdner Philharmonie, gaben sich ebenso die Ehre wie Camillo Radicke und Gunther Anger, letzterer mit familiärem Anhang am Cello. Akustisch ist die Aula mit wenigen Wandeinzügen und einer neuen Deckengestaltung als gelungen zu bezeichnen; der Klang ist direkt, aber niemals scharf, sondern eher abgerundet und in den hinteren Reihen etwas gedeckt. So läßt sich gleichermaßen Bläser- und Streichermusik in interpretatorischer Breite aufführen, ohne dass Interpreten zu aufwändig Klang erzeugen müssten. Auch der Klavierklang trägt im Raum exzellent, ohne dass man eine Höhen- oder Tiefenbevorzugung empfindet.

Im Gesamteindruck glich das Konzert weniger einer Leistungsschau der Eleven als vielmehr einem bunten Begrüßungsstrauss, bei welchem sich Korngold und Mozart, Esbjörn Svensson und Luciano Berio die Hand reichten. Von letzterem erklangen die erfrischenden "Folk Songs" und da bereits Florian Mayer in der Moderation prophezeite, was heute in der Zeitung stünde, hier auch stellvertretend für alle engagierten Protagonisten die Namen der Interpreten, "die man sich merken muss": Anne Petzsch (Sopran), Klara Penkert (Flöten), Christian Wettin (Klarinette), Alice Ludewig (Harfe), Sebastian Dietrich (Viola), Daniel Thiele (a. G., Cello), Toni Hartung und Johannes Graner (Schlagzeug).

Größe und Geschenk der Werke

Beethoven, Janáček und Sibelius im 2. Kapellkonzert

Wer die Klaviermusik von Mozart liebt, kommt an dieser Dame nicht vorbei. Wer Schönberg liebt, erst recht nicht. Mitsuko Uchida ist seit Jahren anerkannte und gefeierte Interpretin dieser Komponisten, aber ihr Repertoire geht weit darüber hinaus. Die Flexibilität dieser Künstlerin und ihre Aufrichtigkeit beim Herangehen an die Partituren erzeugen immer wieder hochklassige, spannende Interpretationen. Auch bei ihrem Gastspiel bei der Staatskapelle Dresden im 2. Sinfoniekonzert war das der Fall und wurde vom Publikum mit lauten Bravos bedacht.

Die Darstellung des 1. Klavierkonzertes C-Dur von Ludwig van Beethoven war von unglaublicher Reife und Souveränität, Uchida reizte die Farbpalette des Klaviers, wie sie Beethoven um 1800 nutzte, voll aus und präsentierte sowohl schlanke Verspieltheit als auch grimmigen Ernst und im 2. Satz ein zauberhaftes Largo, das immer im Melodiefluss blieb und so nicht in romantische Missdeutung abglitt. Gleiches gilt für das Orchester, dem der Ehrendirigent der Kapelle, Sir Colin Davis, nicht nur genaues Spiel abverlangte, sondern das mit Uchida eine glänzende Partnerschaft einging, dies war schon in der Exposition des 1. Satzes spürbar. Virtuosität ist bei Uchida keine Zurschaustellung, sondern pure Demonstration von Sinnlichkeit des Anschlages und dem Fortgang der Komposition. So blieb immer Beethoven gewahrt und man wähnte sich in der Betrachtung eines facettenreichen Bildes - Uchida brach so eine Lanze für den frühen, bereits genialen Meister, ohne ihm seine Eigenheiten zu nehmen.

Bestens aufgelegt ging die Staatskapelle auch in den zweiten Teil des Konzertes, der mit einem besonderen Programm aufwartete. Es ist eine interessante Erfahrung, dass Partituren von Leoš Janáček und Jean Sibelius über 80 Jahre nach der Entstehung immer noch Staunen verursachen. Die Kopplung beider Komponisten ist sinnfällig und erhellt spannende Zusammenhänge in der Übergangsphase zwischen Romantik und Moderne. So eindeutig, wie Richard Strauss über Heldentaten und Alpenwanderungen phantasierte, begegnet einem diese Musik jedoch nicht, und trotz des brennenden Feuers, das Sir Colin Davis in der Rhapsodie "Taras Bulba" entfachte, konnte das Sonntagspublikum für das Schlachtengemälde kaum Begeisterung aufbringen. Davis wählte forsche Tempi und scharfe Akzentuierung der Motivik, so dass alle drei Teile stets dramatisch blieben, fand aber auch die Ruhe und rhythmische Basis für die tänzerischen und melodischen Elemente, die auch in zahlreichen solistischen Passagen gut gestaltet waren.

Für die Aufführung von Jean Sibelius letztem vollendeten Orchesterwerk, der sinfonischen Dichtung "Tapiola" Opus 112 sollte man ebenfalls dankbar sein, zumal Davis als ausgezeichneter Kenner dieser Musik exemplarisch den großen Atem der Musik zeichnete und immer wieder die Weite und das Volumen dieser Musik fast dreidimensional ausformte. Transparent ausgehörte Harmonik und intensiv angelegte Steigerungen machten dieses Naturgemälde äußerst plastisch. Die Größe und das Geschenk dieser Werke zu vermitteln, daran liegt Davis spürbar am Herzen - ohne Janáček und Sibelius wären viele Entwicklungen der Musik im 20. Jahrhundert völlig undenkbar.

Es ist ungewöhnlich, darauf hinzuweisen, aber dieses Konzert war ein wichtiger Schritt, um dieses Verständnis zu fördern und zu begreifen, dass auch abseits der bekannten sinfonischen Pfade musikalische Delikatessen zu finden sind.

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