Rezensionen
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Kunstbogen Dresden" gründet sich mit einer Messiaen-Konzertreihe
Seit dem vergangenen Wochenende besitzt Dresden einen "Kunstbogen". Hinter diesem Namen verbirgt sich eine kleine, aber feine Konzertreihe, die der Kapellmusiker Henrik Woll ins Leben gerufen hat und die sich projektweise und in loser Folge in Dresden zu Wort (und auch "zu Ton") melden wird. Der Bogen steht für das Dach der vielfältigen Inspirationen, die von der Kunst ausgehen und somit schließt Woll in der Reihe Musik, Literatur und bildende Kunst mit ein. Schon durch die Titelwahl wird klar, dass es Woll nicht um bloße Konzerttätigkeit geht, sondern um die Förderung des Diskurses und der Erforschung unterschiedlicher Dramaturgien und ihrer Wirkungen. Es ist sicher kein Zufall, dass im ersten Projekt ausgerechnet ein Komponist im Mittelpunkt stand, der auf ideale Weise den Begriff "Kunstbogen" auszufüllen vermag: Olivier Messiaen vereinigt in seinen Werken Kunst und Natur, Religion und Philosophie zu immer neuen, schillernden Zusammenklängen. Grund genug für Henrik Woll, zum 100. Geburtstag des Komponisten unter dem Titel "Messiaen 100 Jahre - Farbe der Zeit" vier Konzerte im Cosel-Palais zu veranstalten, fast ein kleines Festival also. Gleich zwei Mal stand dabei das "Quatuor pour le Fin du Temps" (Quartett auf das Ende der Zeit) auf dem Programm. Vor einer Woche erst stand das Werk auf dem Programm eines Kapell-Kammerkonzertes und angesichts der tiefen musikalischen Botschaft des Stückes bin ich geneigt zu sagen: es kann gar nicht oft genug gespielt werden. Doch muss man schon die Besonderheit feststellen, dass es überhaupt binnen Wochenfrist in Dresden gleich mehrfach erklungen ist - in herausragenden Interpretationen verschiedener Ensembles. Hier musizierten neben Woll der Cellist Simon Kalbhenn, der Klarinettist Fabian Dirr und Pianist Christoph Berner - allesamt schufen sie eine starke, konzentriert musizierte Deutung des "Quatuor", die nur an wenigen Stellen schwereloser und emotionaler vorstellbar wäre. Schön war der Kontrast zwischen den wirbelnden Ensemblesätzen und den ruhig empfundenen Solosätzen gelungen, schwieriger empfand ich die permante Lesung aus der biblischen Offenbarung, obleich der Schauspieler Dirk Glodde seine Sache sehr gut machte. Jedoch zieht sich so ein Faden durch die Musik, der zwar auch von Messiaen ergriffen wurde, doch in ganz eigener Weise schon in der Musik gespiegelt ist, so dass die Lesung eine atmosphärische Folie auf die Musik legt, die eher einengt denn öffnet. Eine ähnliche Schieflage erhielt auch das Konzert am Sonntagnachmittag. Zwar mag man sich unter dem "Kunstbogen" sicherlich viele unterschiedliche Kreationen vorstellen, aber Gedichte von Georg Trakl zu Messiaens Musik zu lesen, das war eine denkbar unglückliche Verbindung, die sich selbst als Gegensatzpaar ausschloss. Doch gab es hier spannende frühe Werke des Komponisten zu entdecken: "Thème et variations" und "Fantasie" (1932/33) für Violine und Klavier wurden temperamentvoll von Holger Grohs und Masumi Sakagami dargeboten. Die Flötistin Rozália Szabó widmete sich "Le Merle Noir" (Die Amsel) aus dem Jahr 1951 und Diana Al-Hassani schuf eine kräftig-selbstbewusste Interpretation des komplexen, umfangreichen Klavierwerkes "La Rousserolle effarvatte" - "Der Teichrohrsänger" aus "Catalogue d'oiseaux" (1958) - zwei eindrucksvolle Beispiele der Einbeziehung von Vogelgesängen in die Kompositionen Messiaens. Bereits am Vortag erklangen schon ein Liederzyklus sowie Klavierstücke des Komponisten. Gemeinsam mit den Konzerten von Philharmonie und Staatskapelle dürfte der "Kunstbogen" wesentlichen Anteil daran haben, dass einer der wichtigsten Komponisten des letzten Jahrhunderts in Dresden nicht länger ein Unbekannter ist.
Messiaen-Würdigung der Sächsischen Staatskapelle Dresden
"Musik, von der man sagen könnte, sie sei NACH dem Ende der Welt komponiert." - Angesichts der verständlichen Sprachlosigkeit nach der Aufführung der 1946-49 entstandenen, zehnsätzigen "Turangalîla-Sinfonie" von Olivier Messiaen im 3. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle sei dieses Zitat des Schriftstellers Julien Green erlaubt, um dem Eindruck von Messiaens Musik passende Worte zu verleihen. Doch sogleich darf man dem Literaten widersprechen: Messiaens Musik ist gewiss nicht jenseitig und weltenabgewandt, sondern zutiefst mit Mensch und Natur verbunden. Die einzigartige Klangwelt des Komponisten erklingt in diesem Jahr rund um den Erdball zu seinem 100. Geburtstag. Die Urkraft und Aufrichtigkeit, ja Notwendigkeit dieser Klänge ergreift beim Zuhören sofort und rührt an die Sinne. Es ist höchst ehrenhaft, dass die Sächsische Staatskapelle sich gleich mit mehreren Konzerten in das Jubiläum einreiht. Dass es eine Feier der Bejahung des Lebens wurde, ist vor allem dem Dirigenten Myung Whun-Chung zu verdanken, der nicht nur die Turangalîla-Sinfonie im Kapell-Konzert leitete, sondern tags zuvor auch in einem Außerordentlichen Kammerabend in der Schütz-Kapelle im "Quatuor pour la fin du Temps" (Quartett auf das Ende der Zeit) den Klavierpart übernahm. Das "Chung-Messiaen-Projekt" wartete somit mit den beiden wohl wichtigsten, zentralen Werken des Komponisten auf. Das Engagement für Messiaen zieht weitere Kreise: die Kapelle wird auch die Mentorenschaft für den "Meetingpoint Music Messiaen Görlitz-Zgorzelec" übernehmen. Am Ort der Uraufführung des Quartetts, dem ehemaligen Kriegsgefangenenlager Stalag VIIIa, wo Messiaen 1940/41 interniert war, wird ein musikalisches Begegnungszentrum entstehen. Albrecht Goetze, Gründer und Leiter dieses Projektes, gab eine Einführung zum Kammerabend und betonte nicht nur die Ausnahmestellung des "Quatuor" in Messiaens Schaffen, sondern auch seine Bedeutung als ein humanistisches Zeugnis, das in allen Zeiten Kulturen und Menschen über das Erlebnis der Musik verbindet. Chung sowie Matthias Wollong (Violine), Isang David Enders (Cello), Christian Dollfuss (Klarinette) schufen anschließend eine zutiefst beeindruckende Aufführung des "Quatuor", die von allen Musikern im Solo wie im Miteinander von absolutem Verständnis und bis ins Letzte ausgereizter Leidenschaft getragen wurde. Waren es am Sonnabend Glücksmomente höchster kammermusikalischer Intimität, so überwog am Sonntag im Sinfoniekonzert orgiastische, herausplatzende Lebensfreude. Die Solisten Peter Donohoe (Klavier) und Valérie Hartmann-Claverie (Ondes Martenot) waren wie Chung eng mit Messiaen in seinen letzten Lebensjahren verbunden. So gelang ein exemplarisch und einmalig zu nennendes Eindringen in die Klangwelt der Turangalîla-Sinfonie. Das Orchester folgte Dirigent und Solisten mit höchster Spielfreude, größtmöglicher Exaktheit und einem Freudenlärm, der den altehrwürdigen Semperbau mehrfach an seine akustischen Grenzen führte. Vollkommen durchflutet vom tumultösen Tutti-Klang war man bereits nach dem 5. Satz, durfte sich dann im 6. Satz im "Garten des Liebesschlummers" ausruhen, um nach neuerlichen Überlagerungen von Motiven des Liebesspiels und der zahlreichen Vogelstimmen dem Finale "avec un grande joie" - mit großer Freude - entgegenzustürmen. Chung ging die Sinfonie mit klarer Strukturierung und vor allem mit einer unglaublichen musikantischen Lockerheit an, was für dieses Mammutwerk nicht gerade selbstverständlich scheint, jedoch erhielt die Interpretation auf diese Weise eine sehr natürliche, fast tänzerische Lebendigkeit. Chung, das Orchester und die Solisten durften nach dem letzten Verrauschen des Schlussakkordes einen wahren Beifallssturm des mitgerissenen Publikums entgegennehmen.
Partita Radicale sorgte für Entspannung bei den "Tagen der zeitgenössischen Musik"
Zwischen den großen, anspruchsvollen Konzertabenden von de Alvear, Messiaen und Stockhausen wünscht sich der Dauerkonzertbesucher ab und an auch die Abwechslung der ruhigen Art, um die vielen Eindrücke der "Tage der zeitgenössischen Musik" auch einmal zu verarbeiten. Das kann im Stillen passieren, aber durchaus auch bei einer Musikdarbietung, die solch eine leicht genießerische Haltung überhaupt ermöglicht. Bei den in diesem Jahr recht lautstarken Nachtveranstaltungen im Festspielhaus gelang dies weniger: die leicht anarchistische audiovisuelle Performance von "ukr.tele.kom" bildete im Spätprogramm den größtmöglichen akustischen und emotionalen Kontrast zur Abendveranstaltung der Gruppe "Partita Radicale". Dabei klingt nur der Name des kleinen Ensembles gewaltig, denn radikal ist deren Art der Musikausübung sicher nicht, aber dafür sehr versiert und phantasievoll. Vor fast 20 Jahren schlossen sich die professionellen Musiker im Raum Köln und Wuppertal zu einer Improvisationsgruppe zusammen - die lang gewachsene musikalische Partnerschaft war in der knapp einstündigen Aufführung namens "Wellen" deutlich wahrnehmbar. Improvisationen im Bereich der zeitgenössischen Musik zeichnen sich oftmals durch starke Kontrastwirkungen und impulsives Spiel aus, doch hier hatte man den Eindruck, dass große Einigkeit nicht nur über die Großform der Aufführung herrschte, sondern auch über die Bewegung und Gestaltung des Gesamtklangs. Als Impulsgeberin fungierte Wasiliki Noulesa mit zum Thema passender Videokunst, die ähnlich wie das Spiel des Ensemble unaufgeregt und klar wirkte. Dieser ruhige akustische wie visuelle Fluss konnte sich entfalten, obwohl alle Musiker eine reichhaltige Palette zeitgenössischer Spieltechniken aufblätterten, was durchaus auch andere musikalische Richtungen zugelassen hätte. Zudem war die Besetzung mit zwei Flötenspielerinnen, Geige, Bratsche und Akkordeon dazu angetan, im Seitensaal in Hellerau optimal zu verschmelzen. Die Wirkung indes war so beruhigend, dass man trotz einiger Wellen-Aufschwünge ins forte ohne weiteres von Entspannungsmusik reden kann. Da dieses Wort oft negativ belegt ist, würde ich schlicht von entspannender Musik sprechen, und dass dies im Bereich der zeitgenössischen, zudem improvisierten Musik auf so natürlich-niveauvolle Art geschehen kann, ist schon eine kleine Überraschung. Die knapp einstündige Aufführung war kurzweilig und überzeugend Sache. Sicherlich war die Geschlossenheit der musikalischen Aktionen thematisch bedingt, und man wüsste gerne, wie das Ensemble beispielsweise auf dramatische oder dialogische Anreize reagiert. Im 50er-Jahre-Cordsessel entstand bei "Partita Radicale" die einfache Freude über eine im Moment entstehende Musik - Zurücklehnen erlaubt.
Sheherazade - ein audiovisueller Abend von Daniel Smutny
Keine leichte Kost wurde den Zuhörern bei den "Tagen der zeitgenössischen Musik" am Dienstagabend vorgesetzt. Wer diesen Konzertabend allein über das pure Musikerleben (jenseits von Programmheftpamphleten) bewältigen wollte, war etwa nach einer halben Stunde überfordert, nach einer Stunde gescheitert und nach satten zwei Stunden Performance sogar leicht verärgert. Es ist natürlich das gute Recht des Komponisten Daniel Smutny, die Grenzen des musikalisch Verständlichen und Verstehbaren sensibel auszuloten und damit dem Zuhörer jede Menge ästhetischer Fragen, auch Provokationen aufzutischen. Steht diese Intention der Komposition aber stetig im Vordergrund einer Aufführung, so wird der Zuhörer um das sinnliche Erleben von Musik gebracht, schon gar, wenn der audiovisuelle Abend mit "Sheherazade" betitelt wird. Sicher wird man mir entgegnen: selbst schuld, was geht er auch mit solchen Ansprüchen an die Musik in die Aufführung? Richtig, möglicherweise hat mich diese Darbietung, diese Stilistik von Musik einfach nicht erreicht, erreichen können. Die Gründe dafür darf man aber auch in der Dramaturgie dieses Abends suchen und wird prompt fündig. Smutny stellt verschiedene Elemente einer Aufführungssituation vor: es gibt auf der Audio-Ebene komponierte, improvisierte und präsentierte (elektronische) Klangsituationen. Anstelle aber deren Unterschiede und Möglichkeiten kreativ auszunutzen, nivelliert Smutny die Ebenen zu einem einzigen Strom aus unterkühlter Laptop-Musik, einem elend langen und undenkbar leisen Streichquartett und hinzusortierten Improvisationen an tape (Manuel Stagars) und Schlagzeug (Bernd Settelmeyer) - aber bitte vorsichtig und leise! Die Zaghaftigkeit wird hier zu einem Konzept, das scheitern muss, weil sie keine musikalische Kraft entfalten kann, erst recht nicht über eine solche Zeitspanne. Die Musik wird im Ansatz gleich weggepegelt, ausradiert oder unterdrückt und Smutny will sogar die Interpreten in seine Infragestellung von Musik einbeziehen: "Wie soll ich das bloß spielen?" - Den Musikern des Helios-Quartetts war ihr Bemühen um eben diese geforderte "Präzision des unsagbar schwer spielbaren Nichts" deutlich anzusehen. Für den Zuhörer bleibt leider wenig musikalisch Fühlbares neben der (nebenbei recht öden) Betrachtung dieses Kraftaktes über. Die Brücke zur Geschichte der Sheherazade, die um ihr Leben lesen muss, misslingt selbst noch in der Abstraktion gründlich mit all den Kratz- und Fiepgeräuschen, seien sie durch Streichbögen, durch Trommeln oder durch Sampler erzeugt. Hier liegt vermutlich der Hund begraben: keineswegs hätte ich mich so kritisch geäußert, wäre Smutny strikt bei dem geblieben, was er auch so schön im Programmheft ausführt, nämlich der kompositorisch-dramaturgischen Erforschung unterschiedlicher Präsentationsformen eines Live-Acts. Somit bleibt der visuellen Ebene die Aufgabe vorbehalten, sich der Protagonistin des Abends, der Königstochter Sheherazade, intensiv und kreativ zu widmen. Izy Kusche gelingt dies auch mit einer faszinierenden Bildsprache (und vor allem: in wenigen Minuten!) grandios. Allein die Musik läßt sich nicht abschalten - wozu bettet Smutny auch noch ein Streichtrio ein, nachdem er mit dem vorangegangenen Streichquartett exakt dieselbe Haltung in extremum schon einmal exerziert hat? Wenn dieser audio-visuelle Abend zur Absicht hatte, möglichst viele Fragen aufzuwerfen, so darf man das Vorhaben als gelungen bezeichnen. Musikalisch bereichernd war die Aufführung keinesfalls.
Dresdner Philharmonie brillierte mit Olivier Messiaens "Des Canyons aux Étoiles" in Hellerau
Ist es verwegen, einen unbestrittenen Höhepunkt der "Tage der
zeitgenössischen Musik" einem Komponisten zuzuordnen, dessen 100.
Geburtstag in diesem Jahr gewürdigt wird? Da steht Olivier Messiaens abendfüllendes Werk "Des Canyons aux Étoiles" wie ein
unverrückbares Bergmassiv zwischen all den Uraufführungen, Experimenten
und Entdeckungen und strahlt eine wohlige Wärme auf das ganze Festival aus. "Von den Schluchten zu den Sternen" - Messiaen nimmt den Hörer mit auf eine zehnsätzige Reise durch seinen Musikkosmos: Vorbei geht es an gedachten und erlebten Abgründen, respektvoll die Vögel beobachtend, durch alle Elemente und Philosophien hindurch hoch hinauf zu den Sternen, den Himmel schauend. Wie man das alles (und noch viel mehr) in ein textloses Orchesterstück packt? Das ist kaum zu beschreiben, aber es war am Mittwoch im Festspielhaus Hellerau in ganzer Schönheit zu erleben. Die erste Kooperationsveranstaltung zwischen dem Europäischen Zentrum der Künste und der Dresdner Philharmonie war ein voller Erfolg. Von nah und fern erschienen viele Freunde der großartigen Musik Olivier Messiaens. Eine Aufführung dieses 1974 uraufgeführten, enorm anspruchsvollen Werkes ist selten - die Philharmonie kann sich nach Marek Janowskis Sonderkonzert in der Kreuzkirche immerhin der zweiten Aufführung innerhalb von fünf Jahren rühmen. Dass kurz nach der Erstaufführung des Konzertes von Sofia Gubaidulina am vergangenen Wochenende nun ein weiteres großes Werk der zeitgenössischen Musik in bestechender Qualität gelang, spricht für die Flexibiliät und den Selbstanspruch des Orchesters. Mit Stefan Asbury am Pult besaß das Orchester zudem einen agilen, kundigen Leiter, der nicht nur die komplexe Rhythmik und die dynamische Balance der Instrumente gut organisierte, sondern durch deutliche Körpersprache immer wieder die emotionale Ebene unterstützte. Asbury ließ sich bei Übergängen genug Zeit, so dass das Stück (samt Musikern) atmen konnte und der jeweils nächste Abschnitt wieder genug Kraft zur Entfaltung erhielt. Geradezu magisch ist das Klavierspiel von Cédric Tiberghien zu nennen. Man vermutete fast, anstelle des Steinway-Schriftzuges auf dem Flügel wäre am Ende "Messiaen" erschienen, so souverän gestaltete der junge französische Pianist die beiden Solosätze und Dialogpassagen mit dem Orchester und verwandelte das Instrument in ein "Messiaen-Klavier", aus dem die Cluster, Vogelrufe und Schlagzeugklänge auf eine ganz natürliche Weise hervortraten. Dazu verlieh er den Motiven und Gestalten Leben durch einen höchst differenzierten Anschlag zwischen dem hörbaren Nichts und einem fortissimo, das in den Boden unter den Tasten einzuschlagen schien. Dieser Spielkultur stand der Hornist Simon Breyer in nichts nach. Sein "Interstellarer Ruf", der 6. Satz des Werkes, war eine superbe Demonstration erstklassigen Hornspiels und wurde von Breyer als intime Äußerung einer einzelnen Stimme herausragend ausgeformt. Der Satz erhielt somit als Rückblick (in die Canyons) und Ausblick (zu den Sternen) zugleich die zentrale Stellung im ganzen Werk. Überhaupt wurde angesichts des funkelnden Spieles der Solisten und des Orchesters klar, wie nah Messiaens Musik an gesprochener Sprache und mitteilender Aussage liegt. Wenn einmal die Schwierigkeiten der Interpretation überwunden sind und die Akkorde und Melodien frei zu schwingen beginnen, eröffnen sich neue Universen. Auch die Schlagzeuggruppe "Glorious Percussion" bereicherte die Aufführung mit der Gestaltung von Gamelan-Abgründen und ornithologischen Xylorimba-Erkundungen. Diese Darbietung von "Des Canyons aux Étoiles" war ein würdiges Jubiläumskonzert für einen Komponisten, der die Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert maßgeblich mitgeschrieben hat.
Ensemble
ascolta gastiert bei den Tagen zeitgenössischer Musik
Die Filmavantgarde der 1920er-Jahre in Deutschland ist schon für sich genommen sehr spannend, denn die Experimentalfilme von Hans Richter, Oskar Fischinger und Walter Ruttmann sind unbestritten nicht nur Wegbereiter für eine Theorie der Filmkunst gewesen sondern immer auch Anreger für ähnliche Filme oder Kunstexperimente bis hinein in die heutige Zeit. Die Musikavantgarde war schon damals gesuchter, erwünschter Partner dieser visuellen Kunst und so ist es eine schöne Idee, die nur vermeintlich "alten" Filme mit (oft ebenso vermeintlich) "neuer" bzw. neu komponierter Musik zu verbinden. Bei den Tagen der zeitgenössischen Musik in Hellerau gastierte das Stuttgarter Ensemble "ascolta", das in Zusammenarbeit mit dem ZDR/arte seit 2004 solche Aufträge zur Neuvertonung der Experimentalfilme an Komponisten vergibt. Vier Uraufführungen gab es am vergangenen Freitag im Festspielhaus zu hören. Interessant war bei allen Werken des Abends die jeweilige Verschränkung der auditiven und visuellen Ebene, was von kompletter Parallelexistenz abstrakter Formen (Friedrich Schenker mit kraftvoller Musik zu "Lichtspiel Opus 1" von Walter Ruttmann) bis hin zum illustrativen, Nacherzählen eines Films durch die Musik (Carola Bauckholt zu "Vormittagsspuk" von Hans Richter) reichte. Georg Katzer konnte wie Schenker im abstrakten Bereich verweilen; das "Lichtspiel Schwarz-Weiß-Grau" von László Moholy-Nagy vertrug denn auch sowohl autonome musikalische Gedanken wie auch die deutliche Bezugnahme auf die Geometrien des Films. Carola Bauckholt erreichte mit ihrer Ausmalung gerade noch das spielerische Element des "Vormittagsspuks", die Aufeinandertürmung der Bild-Ton-Ebene führte jedoch maximal zu Geräuschhandwerk. Schiebetür geht auf: Ensemble spielt Glissando, Mann läuft: Klopfende Schritte im Ensemble. Bei diesem Handwerk blieb es und so vergaß man leider diese Tonschnipselei schnell. Richtig spannend waren die Beiträge des Abends an dem Punkt, wo Film und Musik sich gegenseitig durchdrangen und gemeinsam Gewinn erzielen konnten, aber ebensogut als einzelner Beitrag hätten bestehen können. Das war in Cornelius Schwehrs Vertonung des "Vormittagsspuks" der Fall. Hier gelang eine in der Klangfarbenkomposition überzeugende Annäherung an den Film, wobei die Musik immer dann noble Distanz bezog, wenn der Film Raum zur Aufmerksamkeit benötigte. Ebenso überraschend, ja erfrischend frech kam "Entr'acte" (René Clair) in der Vertonung des tschechischen Komponisten Martin Smolka daher, der vor drastischen Gesten nicht zurückschreckte, aber alle Klangereignisse in ein homogenes Zeit- und Formgewand hüllte. Weitere Stücke stammten von Bernd Thewes, Swen-Ingo Koch und Catherine Milliken, als besonderes Schmankerl steuerte das Ensemble "Studie Nr. 7" von Oskar Fischinger auf den ungarischen Tanz Nr. 5 von Johannes Brahms bei. Unter der hochkonzentrierten und kundigen Leitung von Titus Engel war nicht nur die gute Synchronisation zu bestaunen, sondern auch eine anspruchsvolle, hochrangige Interpretation der neuen und neuesten Partituren. Nicht nur die Komponisten waren am Ende darüber glücklich, das Publikum dankte ebenfalls für diesen außergewöhnlichen Filmmusikabend.
Maria de Alvears wundersame Naturoper "Colourful Penis" eröffnet die Tage der zeitgenössischen Musik
Mit der Problematik der Freiheit (eines Geistes, eines Volks, einer Liebe) haben sich nahezu alle Opernkomponisten intensivst beschäftigt, mit der Sexualität als immer neu faszinierendem Bestandteil des Lebens erst recht. Diese Begriffe in dynamische Beziehung zu setzen und dafür ein Ereignis oder ein Gleichnis zu finden, das ist die Idee des Musiktheaters "Colourful Penis" der in Köln lebenden spanischen Komponistin Maria de Alvear, dessen Uraufführung am Dienstag die 22. "Tage der zeitgenössischen Musik" in Dresden eröffnete. Im Stück wird der Penis nicht als interpretiertes Symbol der Männlichkeit betrachtet, sondern als Sinnbild für die zum Schluss in schillernden Farben erlangte und erlebte Liebe. Maria de Alvear benutzt nur eine einzige Situation für die ganze Oper: ein Soldat trifft auf eine Bärin und überlegt zu schießen. Von diesem Ereignis an friert die Oper quasi auf der Zeit-Ebene ein und verschiedene Fabelfiguren, die aus der Emotion, dem Denken, aus Zwischen- und Nebenwelten stammen, erörtern die möglichen Konsequenzen des Ereignisses. Das geschieht in der Umsetzung in Hellerau lustvoll bis phantastisch; spätestens in der dritten Szene hat man als Zuhörer die Zeit verloren und trauert ihr nicht nach. Denn man sitzt mittendrin: in einem Dickicht aus Schnüren, die im ganzen Saal von der Decke hängen. Das verschleiert die Sicht, schult die Ohren und Sinne, und jeder einzelne Lichtstrahl wird plötzlich zum Faszinosum. Jan Kattein ist für diesen grandiosen Bühnenwald verantwortlich, der, hat man ihn einmal akzeptiert, den Zuhörer auch haptisch komplett einnimmt. Die Musik, die von einem im ganzen Raum verteilten Kammerensemble zu den Zuhörern dringt, ist stark und kraftvoll. Für Neue-Musik-Moden hat die Komponistin nichts übrig, sie begnügt sich mit wenigen Instrumenten, die sie gestisch ökonomisch und eindrucksvoll einsetzt. Auf die Musiker des Ensembles "KlangArt Berlin" war Verlass. Mit Tempo-Klick im Ohr oder mit Sichtkontakt wurde die Raummusik optimal ausbalanciert und bot sicheren Untergrund für die Gesangslinien. Insistierende Patterns, Melodiefetzen, rhythmische Flächen breiteten sich wie Nebelschwaden im Schnürwald aus. Da Maria de Alvear - Varèse drängt sich als Vergleich auf - die Gestaltungskraft der Musik vor allem der Rhythmik und Dynamik zuordnet, schafft die Musik Distanz, wirkt archaisch und organisch gewachsen. Dazu huschen die Sänger (phänomenal singend, tanzend, springend: VocaalLAB Nederland) als Minichor oder als Individuen durch die Stuhlreihen, verfangen sich im Gelände, bilden Gleichgesinnte oder Gegner und loten so die Entscheidungssituation des Soldaten, der in der Gegenwelt zur Raupe wird, aus. Ein Pfau, ein weiser Olivenbaum und eine Walkuh bevölkern die Szene, die Ahnen werden ebenso befragt wie drei Großmütter, die die Raupe mit Liebe, Mitgefühl und Klarheit überhäufen. Miriam Grimm gestaltete für die Figuren mit sparsamen Kostümen zwischen Neandertaler und Pantoffelfee eine weitere Phantasieebene aus. Maria de Alvears Entscheidung, die Oper in französischer Sprache zu komponieren, wirkt am Ende sehr einleuchtend, denn sie behandelt die Sprache so sensibel, dass sie zur Traum-Sprache dieses Schnur-Waldes gerät und etwa das Wort "esprit" wie eine Böe durch den Raum fliegt. Romain Bischoff (Soldat), Bauwien van der Meer (Bärin) und der Chor argumentieren ihre Befindlichkeiten in halsbrecherischen Rezitationen, die in der Machart fast dem alten Psalmodieren nahestehen. Das ist in diesem Zusammenhang überzeugend, denn biblische oder mystische Botschaften wurden seit alten Zeiten über das gesprochene oder (liturgisch) gesungene Wort verbreitet, gelernt und erörtert. Das Ende dieses "Sinnspiels" ist so einfach wie überzeugend: In der Spiegelwelt lernt sich die Hauptperson selbst kennen und Vertrauen zu sich fassend, gesteht die Raupe der Bärin die Liebe. Es folgt der fröhlich singende Auszug des Volkes und der Fabelwesen aus dem Schnur-Wald, hinein in den echten Hellerauer Wald. Nicht ganz "echt" ist dann, was man im Walde hört, und ebensowenig, was man sich dort als reife Frucht pflücken darf. Nach dieser Naturoper in einem Traum-Raum ist man nach einer guten Stunde seltsam beglückt und überrascht, wie stimmig und überzeugend eine Musiktheateruraufführung sein kann, wenn sie so aufrichtig, humorvoll und hochprofessionell daherkommt, wie "Colourful Penis". Die "Tage der zeitgenössischen Musik" haben einen phantasievollen Auftakt gefunden und anlässlich der Thematik "Musik und Film" darf es gerne die ganze Woche so weitergehen.
2. Sinfoniekonzert der Staatskapelle zum 460. Geburtstag
Anzusehen ist ihr das hohe Alter nicht, hören wird man es erst recht nicht, und wenn doch, dann im Sinne eine über Jahrhunderte gewachsenen Tradition einer aufrichtigen Haltung zur Musik: Die Sächsische Staatskapelle Dresden feiert dieser Tage ihren 460. Geburtstag. Bescheiden fallen die Feierlichkeiten aus, hat doch gerade erst die neue Konzertsaison begonnen, und so gibt es eine Ausstellungseröffnung, ein Kinderkonzert und ein Sinfoniekonzert. Dies alles hätte ohnehin stattgefunden, aber schon im 2. Sinfoniekonzert am Sonntagvormittag konnte man einen gewissen festlichen Charakter im Raum spüren. Der kanadische Gastdirigent Yannick Nézet-Séguin, der zum dritten Mal ein Sinfoniekonzert der Kapelle leitete, legte sich daher auch mächtig ins Zeug für die "alte Dame". Werke von Brahms und Bruckner lagen auf den Pulten und mit zwei herausragenden Solisten geriet Brahms' Doppelkonzert a-Moll Opus 102 zu einem wahren Festakt. Julian Rachlin (Violine) und Mischa Maisky (Cello) braucht man hier nicht mehr vorstellen, sie gehören lange schon zur obersten Riege ihrer Zunft und schätzen sich auch als Kammermusikpartner. Diese Eigenschaft war natürlich gewinnbringend für die Interpretation des Doppelkonzertes, denn mühelos spielten sich die beiden die Bälle zu und verschmolzen im zweiten Satz souverän in einer einzigen strömenden Melodielinie. Für gediegene Klassik stehen diese beiden Künstler nicht, man hatte stattdessen das Gefühl, Augenzeuge einer im Moment entstehenden, sofort gestaltenden und reagierenden Interpretation zu sein, die vor allem Dramatik und Lyrik so optimal auspendelte, bis der typisch erdige, voluminöse Brahms-Klang sich entfaltete. Yannick Nézet-Séguin brauchte da am Pult eigentlich nur wenig unterstützen, denn das leidenschaftliche Spiel der Solisten übertrug sich sofort auf das Orchester. Nach der Pause erklang die Urfassung der 3. Sinfonie d-Moll von Anton Bruckner. Damit wählte das Orchester zum Geburtstagskonzert nicht eben den bequemsten (4. Sinfonie), aber auch nicht den monströsesten (8. Sinfonie) Weg, sondern ließ sich auf die wechselvolle Rezeptionsgeschichte eines Werkes ein, mit dem Bruckner trotz mancher Diskussion und Ablehnung sinfonisches Selbstvertrauen erlangte. Zudem verbindet die Kapelle mit dem Stück die Uraufführung der Originalfassung, die Joseph Keilberth 1946 im Kurhaus Bühlau dirigierte. Fast zwanzig Minuten Musik (aber auch einige Generalpausen) mehr bietet die Urfassung gegenüber mindestens fünf (!) späteren Fassungen. Das führt nur im 2. Satz zu einigen gespürten Längen, ansonsten entsteht das Bild eines monumentalen, in Wellen anrollenden Ungetüms. Man hätte der "Dritten" auch ohne weiteres den Beinamen "Die Plötzliche" verleihen können, so oft wie Bruckner hier mit Abbrüchen, Tonartrückungen oder auf den Kopf gestellter Form überrascht. Erst in den letzten Takten befreit sich die Sinfonie erlösungsartig mit dem Hauptthema des 1. Satzes aus ihren Verwicklungen, die in ihrer ständigen Neugenese für romantische Verhältnisse nahezu avantgardistisch wirken. Yannick Nézet-Séguin verzichtete auf Pathos und Gottesdienst zugunsten von vorwärtsdrängenden Steigerungen und Akzentuierung der harmonischen Ebene. Damit lag er richtig, wenngleich seine Körperaktion zu oft (und leider auch gleich in den ersten Takten der Sinfonie) zu lautes Spiel hervorbrachte, was bei Bruckners großbögigen Tutti-Passagen eben nur bis zu einer gewissen Grenze sinnvoll ist - jenseits dieser wirkt die ausgeübte Kraft gewalttätig statt geerdet. Schön war die rhythmische Arbeit bei Akzentuierungen zu beobachten, aber in den beiden ersten Sätzen haperte es in den Unisono-Passagen an Genauigkeit im Zusammenspiel. Stark war die Finalwirkung des 4. Satzes, hier wie auch im äußerst lebendigen Scherzo hatten sich Dirigent und Orchester dann vollkommen auf die notwendige, adäquate Intensität der Spannung verständigt.
Lang, Strauss und Brahms im 1. Sinfoniekonzert der Staatskapelle
Die neue Saison der Sächsischen Staatskapelle Dresden ist eröffnet. Das 1. Sinfoniekonzert begann wie beim Antrittskonzert des GMD Fabio Luisi mit neuen, noch nie gehörten Tönen: Mit einer Uraufführung eines Auftragswerkes stellte sich der neue Capell-Compositeur, der österreichische Komponist
Bernhard Lang, dem Publikum vor. War bei Isabel Mundry im Kontext zu den Konzertprogrammen immer eine deutliche Distanz und Kontrastbildung spürbar, so ließ sich Lang klar durch das Nachbarwerk inspirieren. "Der neue Don Quichotte" hieß seine Komposition "Monodologie II" im Untertitel und formulierte so die alte Geschichte in einer radikal modernen Sprache. Die Monodologien sind ein Werkzyklus von Bernhard Lang, von denen wir in der neuen Saison noch mehrere neue Teile hören werden. Es sind blockhaft angelegte Systeme von Zellen, die Rhythmus und Harmonik in den Vordergrund der Betrachtung stellen - Kontrapunktik wird wie von selbst durch stetige Veränderung des streng anmutenden Materials erzeugt. So entstanden fremdartig rotierende Klangflächen, von denen Lang kaum einmal abweicht. Wenige Male blitzen in den Texturen melodische Schübe auf, die aber der Gesamtfläche untergeordnet sind. Hat man sich an diese Klangwelt erst einmal gewöhnt, setzt man die Teile im Ohr zueinander in Beziehung und eine spannende Hörerfahrung entsteht. Kleine Details des Werkes mögen Langs frische, offene Komponierweise verdeutlichen: die Bevorzugung der Oboeninstrumente zu Beginn kann durchaus als freundliches Winken hinüber zum "Heldenleben" und zur Sinfonia Domestica verstanden werden, während der Schluss trotz weiterem Kreise(l)n in schmunzelnder Alpenseligkeit augenzwinkernd daherkam: der neue Don Quichotte lächelt auch noch beim Untergang. Undeutlich gelang allerdings die Interpretation in der Hinsicht, ob ein emotionales Insistieren oder eine kühle Mechanik beabsichtigt war. Hier hätte eine von Luisi schärfer gezeichnete dynamisch-agogische Ebene größere Wirkung erzeugt. Nach der zeitgenössischen Sicht auf Strauss und "Don Quichotte" dann das "Original": für die Tondichtung gesellte sich Jan Vogler als Solist hinzu, Sebastian Herberg gab einen klangstarken Sancho Pansa. Vogler gab sich mit Leidenschaft und mutigem Zugriff dem Solopart hin, dies war in allen Episoden gemeinsam mit dem Orchester überzeugend gestaltet, da Luisi hier die Episoden in den Orchesterfarben gut variierte und Vogler Raum für große lyrische Entfaltung gab. Nach der Pause stellte Luisi seine Sicht auf Johannes Brahms 4. Sinfonie e-Moll, Opus 98 vor. Breites Legatospiel im ersten und kontrastreiche Themendarstellung im zweiten Satz bestimmte die von der Kapelle sehr homogen musizierte Interpretation. Das Scherzo kam eher ruppig denn "giocoso" daher und nahm daher schon fast die von Luisi offen bloßgelegte Dramatik der finalen Passacaglia vorweg, die er, das war bemerkenswert, in einem klar definierten Tempo ohne Abweichung als zwingende Entwicklung bis zum Schlussakkord anlegte - überzeugend.
Sir Colin Davis und das
Gustav Mahler Jugendorchester in der Semperoper
Es ist ein Geschenk für einen jungen Musiker, in einem der besten Jugendorchester Europas, wenn nicht gar der Welt mitspielen zu dürfen. Hat man sich beim Gustav Mahler Jugendorchester diese Möglichkeit durch Erfüllung der harten Aufnahmekriterien einmal erarbeitet, so ist die Erfahrung der Mitwirkung an einem der Projekte des Orchesters sicherlich prägend für die weitere Entwicklung, denn eine jede Projektphase ist einzigartig: weder im Alltag einer Hochschule noch im späteren Berufsleben, möglicherweise in einem Profiorchester, gelingt eine solch hochklassige, intensive Arbeit an einem Konzertprogramm erneut, davon kann man angesichts der schnellebigen Zeit und der engen Terminpläne von Musikern heutzutage ausgehen. Man darf sogar durchaus nachdenklich werden, wenn man erstaunt feststellt, dass manche Interpretationen dieses Jugendorchesters Referenzaufnahmen oder Konzertdarbietungen der "Profis" mühelos in den Schatten stellen. Noch staunenswerter wird dieser Umstand, wenn man bedenkt, dass sich dieses Orchester in der Besetzung ständig auswechselt, aber vielleicht liegt genau darin auch der Reiz: das Unmögliche möglich machen, einmal für die Musik alles geben. So war es auch am Sonntag im Semperbau. Zur Eröffnung der neuen Konzertsaison der Sächsischen Staatskapelle gastierte das Gustav Mahler Jugendorchester unter Leitung von keinem geringeren als dem Ehrendirigenten der Kapelle, Sir Colin Davis. Der junge aufstrebende Geiger Nikolaj Znaider war der Solist in Ludwig van Beethovens Violinkonzert D-Dur, Opus 61. Schon die sorgfältig modellierte Exposition des 1. Satzes ließ Großes erahnen, Znaider selbst tauchte mit dem Solopart wie aus dem Nichts auf und empfing den Zuhörer gleich mit einem sicher geführten, romantisch empfundenen Ton. Dieser Lyrismus zog sich durch alle drei Sätze und wurde von Znaider nur selten mit Dramatik versehen, wenn doch, dann war wie in der Kadenz des letzten Satzes jederzeit überlegene Kontrolle über jeden Strich, jeden Ton spürbar. Dies ergab gemeinsam mit dem tadellos begleitenden Orchester eine nahezu perfekte Interpretation, die aber niemals glatt wirkte. Im zweiten Satz berührte Znaider die unteren Tempogrenzen mehrfach, doch die beibehaltene starke Ausgestaltung der Melodiephrasen ließ nie den Fluss stocken. Dieser konsequente sanft-samtige Charakter der Interpretation war eine überraschende Ausdeutung des Konzertes und gelang überzeugend. Nordisch ging es nach der Pause weiter, die 2. Sinfonie D-Dur von Jean Sibelius ist nicht unbedingt als "Klassiker" auf den Programmen zu finden - in der zerklüfteten, melancholischen und erst am Ende von strahlendem Licht durchzogenen Partitur muss man die zahlreichen klanglichen Schönheiten erst zum Leben erwecken. Sir Colin Davis dirigierte das Werk nicht, er zelebrierte es, und das ging mächtig unter die Haut. Immer wieder spornte er das Orchester zu kraftvollen Steigerungen an und beflügelte vor allem den großen Legato-Atem der strömenden Melodien. Man wusste kaum, wohin man zuerst sein staunendes Ohr halten sollte: zum vollkommen satt und voluminös erzeugten Streicherklang, zum perfekt ausgehörten Blechbläsersatz oder zu den souveränen Holzbläsersoli. Hier stimmte einfach alles, und Davis schaffte es, mit den Musikern die kantige Form des Werkes bis zur Schlussapotheose unter enormer Spannung zu halten. Die völlige Verausgabung in dieser Aufführung war ihm beim donnernden Schlussapplaus anzumerken - wenn Musik zu so einem lebendigen, tiefgehenden Erlebnis wird, dankt man es ihm und dem Orchester gerne lautstark.