Rezensionen

Montag, 29. Oktober 2007

Zwischen Tradition und Avantgarde

Ravel und Strawinsky im 2. Zykluskonzert der Dresdner Philharmonie

Auf das Musikleben von Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts richtete sich der musikalische Fokus des 2. Zykluskonzertes der Dresdner Philharmonie, und mit Maurice Ravel und Igor Strawinsky standen zwei Komponisten auf dem Programm, die beide auf ihre eigene Weise für die radikale Fortentwicklung der Musik zu dieser Zeit standen und doch die musikalischen Traditionen ihrer Heimat selbstverständlich einbezogen. Es gab sogar eine Zusammenarbeit beider Komponisten: für die "Ballets Russes" sollte Mussorgskys Oper "Chowantschtschina" neu gefasst werden, doch die Partitur scheint verschollen. 1912 führte Diaghilews Ballett Ravels "Daphnis & Chloé" auf, ein Jahr später kam es zu der Skandalaufführung des "Sacre" von Igor Strawinsky. Aus dieser bewegten Zeit stellten die Philharmoniker ein abwechslungsreiches Programm zusammen - die vielen Facetten beider Komponisten passen eh kaum in ein einzelnes Konzert. Zumindest das Schaffen von Ravel wurde mit zwei orchestrierten Klavierstücken und dem späten Klavierkonzert G-Dur in breiterer Form gewürdigt. Chefdirigent Rafael Frühbeck de Burgos stellte zunächst die "Pavane pour une infante défunte" vor, ein ideales Beispiel, wie Ravel mit wenigen ausgesuchten Klängen im Orchester optimale Wirkung erzielt, was leider auch die Klassikradios landauf und landab erkannt haben. Die Philharmoniker überraschten hier mit einer flüssigen Wiedergabe: zum Schwelgen war in diesem Tempo keine Zeit. Das Gegenteil war in der "Alborada del Gracioso" der Fall. Was der Pavane an Ruhe fehlte, ließ in der "Alborada" das spanische Feuer zum Flämmchen geraten. Zwar war die Exaktheit von Frühbeck de Burgos Dirigat bemerkenswert und die Akkuratesse der rhythmischen Figuren nachvollziehbar, es gibt allerdings weitaus emotionalere und auch durchaus wildere Darstellungsoptionen für dieses Werk. Ein Star der Pianistenszene betrat dann das Podium des Kulturpalastes: Yundi Li wird nicht nur in China wie ein Popstar verehrt, auch die westliche Welt, namentlich die Plattenfirmen kümmern sich rührend um diesen Wunderpianisten, der vor allem mit Interpretationen von Chopin und Liszt von sich reden macht. Maurice Ravels Klavierkonzert erschien ihm eher eine leichte Übung zu sein. Brillanz und Spielwitz schüttelte Li sprichwörtlich aus dem Handgelenk und überraschte mit einem auch im Mittelteil leise gestalteten 2. Satz, was in jedem anderen Konzertsaal ein Wunderklang gewesen wäre. Im Kulturpalast verschwand das Klavier dann leider akustisch hinter dem ebenfalls schon an der unteren Schwelle spielenden Orchester. In den Ecksätzen gestaltete Yundi Li den Solopart überwiegend weich und flüssig. Das kennt man bei diesem frechen Konzert zwar auch anders, doch muss man dem jungen Pianisten die eben nicht gewalttätige, sensible Auseinandersetzung mit dem Konzert hoch anrechnen. Indiskutabel war die Begleitung des Orchesters in den Außensätzen, vermutlich stellte sich deshalb mehr als einmal der Eindruck ein, Frühbeck de Burgos hatte mehr damit zu tun, die Tempobalance und das Zusammenspiel mit den zahlreichen Soloeinwürfen zu koordinieren, als frei und frisch zu interpretieren. Die "Widmung" von Franz Liszt als Zugabe zeigte dann atemberaubende Virtuosität, die im Solospiel ungestüm aufblitzte. Nach der Pause nahm Rafael Frühbeck de Burgos die Philharmoniker mit in den archaischen Sturm des Ballets "Le Sacre du Printemps". Was 1913 zu Schlägereien im Konzertsaal führte, ist schon seit vielen Jahren ein Kultstück auf den Konzertpodien der Welt, nicht zuletzt Simon Rattles Jugendprojekt hat dieser Musik noch einmal ein völlig neues, begeistertes Publikum beschert. Frühbeck de Burgos dirigierte das komplexe Werk auswendig (!) und mit bewundernswertem Tempogefühl. Gefahrenpunkte in der Partitur wurden von ihm sofort in den Griff genommen und "entschärft", sodass der große Philharmonikerapparat bestens ins Spiel kam und sich die rhythmischen Wogen auf sehr natürliche Weise ausbreiteten. Homogen ausbalancierte Stimmgruppen und pointierte Themenausformung kamen als positive Eindrücke hinzu. Frühbeck de Burgos meisterliche Fähigkeit, dieses Werk klar zu strukturieren und jederzeit ruhig und achtsam zu kontrollieren schuf so eine Interpretation, die emotionale Wucht jenseits vom Pathos und filigranes Ausarbeiten in den Orchestergruppen beförderte.

Samstag, 20. Oktober 2007

Zeitreise

Filmmusik-Uraufführung von Michael Nyman bei der Dresdner Philharmonie

Das zweite außerordentliche Konzert der Dresdner Philharmonie wird nicht nur ein akustisches, sondern auch visuelles Ereignis. Die Filmmusik der sowjetischen Avantgarde der 20er Jahre ist im Konzert zunächst durch Prokofjews Suite zu "Leutnant Kijé" vertreten, anschließend wird der Film "Der Mann mit der Filmkamera" (1929) von Dziga Vertow gezeigt, mit der extra für die Dresdner Philharmonie neugefassten Musik des Briten Michael Nyman (geb. 1944), der durch seine Filmmusiken ("Das Piano", "Gattaca"), aber auch seine sinfonischen Werke und Opern weltberühmt wurde.
Alexander Keuk sprach mit dem Dirigenten des Konzertes, dem US-Amerikaner Brad Lubman.

* Der Film von Vertow gilt als Pioniertat des Dokumentarfilms. Was würden Sie als besondere Qualität des Films hervorheben?

Das eigentlich Schockierende des Films ist die Abbildung der Realität, die es so vorher in einem Film nicht gegeben hat. "Der Mann mit der Kamera" kommt ja völlig ohne Handlung aus, aber die Kamera beobachtet Dinge wie z.B. eine Geburt und wir sehen das gerade neugeborene Baby. Im Medienzeitalter heutzutage ist das Alltag, aber vielleicht weist uns die Filmvorführung auf die spannende Entstehung dieses Genre hin. Wir können dies heute alles mit dem Computer tun, aber es ist ja gerade interessant, die Zeitreise zu unternehmen, wie alles damals begann.

* Die Partitur wurde schon 2001 für die Michael Nyman Band geschrieben, was ist der Unterschied der neuen Fassung, die nun uraufgeführt wird?

Die Nyman-Band ist ein kleines Ensemble, u.a. mit Saxophonen und Klavier, in der Fassung für großes Orchester wird die Instrumentation natürlich farbiger und die Stimmungen noch intensiver. Nyman ist ein Komponist, der ja auf allen Feldern der klassischen und populären Musik arbeiten kann.

* Für die Dresdner Philharmonie, die sonst die großen klassischen Werke spielt, ist das sicher eine neue Erfahrung. Wie reagieren die Musiker auf diese Filmmusik?

Ich muss sagen, dass das Orchester äußerst flexibel ist und sofort den speziellen "Sound" für diese Musik entwickelt hat. Und ebenso für Prokofjew. Diese enorm schnelle Anpassungsfähigkeit an einen bestimmten Musikstil ist eine gute Grundlage für die Arbeit.

* Welche besonderen Anforderungen muss ein Dirigent für Filmmusik haben? Und wie ist es, diese Musik in einem "normalen" Sinfoniekonzert zu präsentieren?

Vor allem muss der Dirigent einen Sinn für Tempo und Zeitverläufe entwickeln. Es ist nicht so, dass wir im Konzert mit der Uhr spielen und wie im Studio bei einer Aufnahme des Soundtracks alles präzise synchron spielen müssen, aber es sollte doch annähernd parallel zum Film sein. Außerdem verändert natürlich der Konzertraum die Wahrnehmung des Films, da wirkt noch einmal die Atmosphäre mit Publikum auf den Dirigenten und möglicherweise verändert sich da ein wenig die Tempowahrnehmung. Es gibt eine leichte Flexibilität im Tempo, aber eben nicht viel.

* Der Film hat bereits eigenes, hohes Tempo, Vertow arbeitet experimentell mit Schnitten, Montage und Geschwindigkeit, inwieweit geht Nymans Musik dort mit oder schafft Distanz?

Michael Nymans Musik ist oft viel linearer als der Film, damit schafft er eine eigene Ebene, beide haben ihre eigene Geschwindigkeit. Nyman Musik ist zwar auch oft schnell und rhythmisch, aber er fügt auf jeden Fall eine eigene Dimension hinzu, es ist keine andauernde Parallelaktion. Ich kann mir auch eine andere Musik zu dem Film vorstellen, aber der spezielle Nyman-Sound fügt etwas dem Film hinzu. Man sieht ihn dann einfach anders. Beispielsweise ist die Musik an vielen Stellen sehr melancholisch, es ist die Frage, ob Vertow solch eine Ebene schon beabsichtigt hat, oder ob das eine neue Sichtweise ist. Manchmal denkt man auch an die Stummfilmmusik der 20er Jahre, die ja damals im Kino live vom Piano gespielt wurde - und Nyman ist ja Pianist, diese Verbindung ist sinnfällig.

* Sind im Repertoire von Orchestern Filmmusikpartituren generell angelangt?

Ja, das hat in den letzten zwanzig Jahren stark zugenommen, ich erinnere mich als erstes an Vorführungen von "Alexander Newskij" von Prokofjew mit Orchester in den 80er Jahren, damals waren wir noch nicht im digitalen Zeitalter. Philip Glass war dann wohl einer der ersten, der moderne Filmmusik in den Konzertsaal brachte. Mittlerweile setzen viele Orchester auf solche Aufführungen und ich merke auch bei der zeitgenössischen Musik, dass die Akzeptanz immer höher wird, vor allem weil in den Orchestern längst ein Generationenwechsel stattgefunden hat: die jungen Musiker wollen Musik aus ihrer Gegenwart spielen, nicht in ein Museum gehen.

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Sa, 20.10.2007, 19.30 Festsaal Kulturpalast
2. Außerordentliches Konzert
Sergej Prokofjew: Sinfonische Suite »Leutnant Kijé« op.60
Michael Nyman: »The Man with the Movie Camera« (»Der Mann mit der Filmkamera«), Musik zum gleichnamigen Film von Dziga Vertov
(UA der Orchesterfassung)

Montag, 15. Oktober 2007

Reines Vergnügen

Landesjugendorchester Sachsen feiert 15jähriges Jubiläum

Gleich vorneweg: der Beifall am Ende des Konzertes wollte kein Ende nehmen und diese herzliche Reaktion gebührt dem Jubiläum des Landesjugendorchesters Sachsen, das nach "nur" 15 Jahren seines Bestehens allen Grund dazu hat, Geleistetes zu feiern, eine gelungene Entwicklung zu bestaunen und sich selbst und den Zuhörern dabei auch noch ein höchst anspruchsvolles Konzert zu schenken. Die große Orchesterbesetzung mit ehemaligen Mitgliedern war auch diesmal in einer Probenwoche mit Dozenten für die Stimmgruppen optimal vorbereitet worden. Überhaupt ist anläßlich dieses Jubiläums festzustellen, dass Milko Kersten mit den jungen Musikern in den letzten Jahren trotz wechselnder Besetzungen in den Konzerten eine hohe Musizierqualität zeigt, die Bestand hat. Für junge Instrumentalisten in Sachsen auf der Schwelle zu einem Musikstudium dürfte also die Teilnahme im Landesjugendorchester durchaus eine Ehre darstellen, zudem findet sich in allen Instrumentengruppen ein Niveau, das keinen Vergleich mit Profiorchestern scheuen braucht. Das angemessene Ambiente für das Dresdner Konzert war durch die dankbare Kooperation mit der VW-Manufaktur vorhanden, wenngleich der gläserne Riesensaal bekanntermaßen für sinfonische Konzerte akustisch kaum geeignet ist. Das war aber auch das einzige Manko des Konzertes. Ausgerechnet das zeitgenössische Werk des Abends litt darunter besonders, denn die dichten rhythmischen Strukturen von Wilfried Krätzschmars "Galopp - mouvement" verschwanden trotz der zu beobachtenden präzisen Anleitung von Dirigent Milko Kersten oft in einer großen Klangwolke. Und doch beeindruckte dieses erst 2006 vom MDR-Sinfonieorchester uraufgeführte Werk des Dresdner Komponisten: rasante Geschwindigkeit, rhythmische Finesse und immer wieder überraschende Momente waren die Pfeiler dieses Parforceritts, der dem Orchester niemals entglitt, mehr noch: das war kluge zeitgenössische Musik, die Zuhörern und Musikern gleichsam Spaß machte. Dieser Darbietung waren Vorspiel und "Isoldes Liebestod" aus "Tristan und Isolde" von Richard Wagner vorangestellt, letzteres erklang aufgrund der Erkrankung der Solistin leider nur in der reinen Orchesterfassung. Überraschend war hier ein sanfter und unaufdringlicher Zugang zu beiden Stücken. Kersten wagte eine äußerst leise und weich gestaltete Klangfärbung und konnte sich der konzentrierten Umsetzung sicher sein. Zu einem wahren Vergnügen geriet dann nach der Pause die konzertante Aufführung des Einakters "Gianni Schicchi" von Giacomo Puccini. Damit waren in einem Konzert für die jungen Musiker nahezu alle Aufgaben dargestellt, mit denen sie sich später im Orchester auch beweisen müssen: Repertoirespiel, zeitgenössische Musik und das "Grabenspiel" von Opern. Hier jedoch blieb das Orchester zur halbszenischen Aufführung auf der Bühne und leistete Beachtliches, denn Kersten vermochte ein sinnliches, flexibles Spiel zu gestalten - der große Apparat fiel kaum auf und in dieser unauffällig tragenden Begleitung lag gerade die Stärke des Orchesters. In der Kooperation mit der Opernklasse der Hochschule für Musik fand sich ein großes studentisches Sängerensemble auf der Bühne zusammen. Als erfahrener Profi gestaltete Kammersänger Andreas Scheibner die Titelrolle darstellerisch wie musikalisch absolut beeindruckend und riß damit die jungen Sänger zu einer sehr ansprechenden Leistung mit, dabei erfreuten Simone Lichtenstein (Sopran) und Soongoo Lee (Tenor) in ihren umfangreicheren Partien mit besonders ausdrucksstarken Stimmen. Das Intrigenspiel um die Erbschaft des verblichenen Buoso Donati geriet somit für den Zuhörer zum Heidenspaß und die Feststellung des uneingeschränkte Genusses (von einer missglückten Verstärkung der Harfe einmal abgesehen) dürfte das schönste Kompliment für das Jubiläum sein.

Donnerstag, 11. Oktober 2007

Brillant und klanggewaltig

Jubiläumskonzert des "ensemble courage"

Leider waren die Ränge im Festspielhaus Hellerau beim Jubiläumskonzert des Dresdner "ensemble courage" nicht ganz gefüllt. Man hätte es den Instrumentalisten gerne gegönnt, denn was diese Ausnahmemusiker in den vergangenen 10 Jahren nicht nur für Hellerau, sondern auch für die Belebung der kulturellen Szene in Dresden getan haben, hätte ein deutliches Mehr an Gratulanten verdient. Die Anwesenden begrüßten und feierten das Ensemble jedoch aufs Herzlichste, Intendant Prof. Udo Zimmermann wusste denn auch in einer kurzen Rede die Bedeutung und Geschichte des Ensembles zu würdigen. Den Festgedanken beging ensemble courage auf seine Weise: statt Jubel und Theaterdonner zeigten die rund zwanzig Musiker, was sie am Besten können: Neue Musik spielen, und zwar auf höchster Qualitätsstufe. Damit hat sich das Ensemble schon in den vergangenen Jahren auch in der internationalen Szene einen markanten Ruf geschaffen und das Jubiläumskonzert war nichts weiter als eine großartige Demonstration dieser Qualität. Zum Geburtstag hatte man sich zwei Uraufführungen "gegönnt", diese stammten von Komponisten, die seit langer Zeit dem Ensemble nicht nur freundschaftlich verbunden sind, sondern auch die Entwicklung maßgeblich mitgeprägt haben: Benjamin Schweitzer gründete ensemble courage 1997 und leitete es mehrere Jahre. Sein neues Werk "achteinhalb" darf daher gerne als Gabe und Dank gleichzeitig empfunden werden. Im Vergleich zu früheren Werken fällt Schweitzers Hinwendung zu rhythmisch-körperlicher Klangästhetik auf, die hier in focussierter Konzentration das ganze Stück bestimmt. Ein Felsengarten voller tiefer Klänge türmt sich da auf, der aber seine Kompaktheit vor allem durch die zeitliche Beschränkung auf eben achteinhalb Minuten erhält. Direkt danach erklangen als Uraufführung Gerhard Stäblers "Übungen der Annäherung" für drei Instrumente. Tobias Schwencke (Klavier), Georg Wettin (Klarinette) und Ulrich Grafe (Schlagzeug) formten eine formidable Interpretation eines Werkes, das zwischen gestischer Bedeutungsschwere und scheinbarer Leere zu fast greifbarer Poesie fand und einen sehr starken Eindruck hinterließ. Im ersten Teil des Konzertes traf die fast angstmachende Sprachgewalt von Salvatore Sciarrinos "Introduzione all'oscuro" (bereits hier war die Exaktheit der Interpretation hervorstechend) auf das nachdenkliche "Beyond..." von Tobias Schwencke, ein sich mehrfach um seine Achse drehendes Stück, dessen fragende Phasen schließlich in einem Drama der Ein-Tönigkeit einer Geige kulminierten. Demgegenüber stand mit Georg Friedrich Haas' "Nach-Ruf...ent-gleitend" eine vor allem mikrotonale Klangwelt der Schwebungen und Akkordblöcke auf dem Programm, zu der ein Zugang recht schwer fiel, wo aber die Faszination des farbenreichen Klangbildes schon allein zufriedenstellte. Am Ende kam das große Ensemble unter der subtilen, stets motivierenden Leitung von Titus Engel zu Iannis Xenakis' "Waarg" zusammen, ein durch seine Räumlichkeit und Massierung beeindruckendes Werk. Die Entfesselung von naturnahen Kräften wirkte unmittelbar, ensemble courage spielte hier wie im ganzen Konzert mit höchstem Darstellungswillen und selbstverständlicher Souveränität. "Wir stehen erst am Anfang" meint Dirigent Titus Engel. Was er und seine Musiker am Donnerstag und in den vergangenen Jahren in vielen Konzerten zeigten, ist ein mehr als brillanter Anfang. Die spannende Fortsetzung dieses Ensemble-Lebens innerhalb der neuen und neuesten Musik ist garantiert.

Dienstag, 9. Oktober 2007

Gewaltiges Rauschen

"In Vain" von Georg Friedrich Haas in Hellerau

Am Sonntagabend hieß es, sich von den diesjährigen Tagen der zeitgenössischen Musik zu verabschieden. Den Prozess des Abschieds konnte man im letzten Konzert (es schloss sich noch eine "Filmnacht" an) wortwörtlich nehmen: Wer mit den uralten, bequemen und auch nützlichen Hörgewohnheiten bezüglich Rhythmus, Melodie, Form und Klang die Aufführung von Georg Friedrich Haas' "In Vain" (Link zu einer Werkeinführung und Hörbeispiel) besuchte, durfte sich gleich "verabschieden". Kein anderes Stück stand auf dem Programm, denn der 1953 geborene österreichische Komponist entfaltet in rund 63 Minuten ein Panorama für großes Kammerensemble, das in der sorgsamen Aufführung durch das Österreichische Ensemble für Neue Musik aus Salzburg zu einem Höhepunkt des 21. Jahrgangs des Festivals geriet. Haas arbeitet mit mikrotonalen Strukturen, in der Neuen Musik ist dies zwar ein "alter Hut", doch Haas' individuelle Kompositionsentscheidung für ein langes, von meist bewegten Flächen bestimmtes Werk führt den Hörer nach einer kurzen Einleitung, in der flirrende, zumeist leise Tonleiterabstiege im ganzen Ensemble bereits eine konzentriert "arbeitende" Atmosphäre verbreiten, in die faszinierende Welt von Obertonspektren und Mikrotönen. Interessanterweise klingt da nichts "schief" oder "schräg", obwohl Haas den Gesamtklang des Ensembles verzerrt, im Gegenteil: die genaue Kenntnis der Instrumente und der Möglichkeiten jenseits der temperierten Stimmung führt zu einer schier grenzenlosen Farbpalette des Kammerensembles. Die immer neue Schichtung von Klängen wird so beim Hören zu einer spannenden Entdeckungsreise. Hat man sich in einen Klang eingehört, erscheinen sanfte Übergänge, neue Tonhöhen oder blockartige Gebilde leiten über in die nächste "Phase". Kaum einmal bricht Haas abrupt ab und Pausen werden auf natürliche Weise in der Musik einbezogen. Haas versteht es überdies, zwischen "bekanntem" Tonmaterial und den mikrotonalen Strukturen zu changieren - die temperierten Instrumente Klavier und Vibraphon etwa liefern die grundtönigen Bausteine für einen Gesamtklang oder eine bewegte Fläche. Immer wieder entstand so der Eindruck eines neuen Instrumentes, das aber nicht auf der Bühne vorhanden war: mal war es eine riesige Orgel, mal fühlte man sich an die elektronischen "Ondes Martenot" erinnert, kurzum: die Ohren wurden akustisch sensibilisiert für eine Klangreise, die sogar in die Dunkelheit führte, denn Haas schaltet per Partituranweisung an mehreren Stellen die optischen Reize aus, das Festspielhaus versank in Schwärze oder wurde mit kurzen Lichblitzen erhellt. Für das Österreichische Kammerensemble hieß die besondere Anforderung also neben der Mikrotonalität, die ohnehin ein extrem geschultes Ohr erfordert, Passagen des Werkes im Dunkeln auswendig und ohne Dirigent zu spielen. Dass sich über die 63 Minuten Dauer dann immer wieder solche spannenden Klangeindrücke formierten (im Höhepunkt in der 2. Dunkelphase hatte man plötzlich den Eindruck, dass dort nicht 24 Musiker sitzen, sondern mindestens 100, so gewaltig war das Rauschen), ist wohl der optimalen, harten Vorbereitung der Interpreten zu verdanken. Zudem führte der Schweizer Dirigent Jürg Henneberg mit unaufdringlich weichen Hinweisen, jedoch klarer Temposprache durch das Werk. Ungewöhnlich war auch, dass der Beginn des Werkes als Zugabe erneut gegeben wurde, dies geschah zwar aus technischen Gründen, wurde aber von einem begeisterten Publikum unterstützt. Generell stellt die mikrotonale Musik sicherlich einen Sonderfall innerhalb der zeitgenössischen Musik dar, sie ist aber in all ihren Ausdrucksformen als grundsätzliches Prinzip oder auch als "Werkzeug" einer Kompositionsidee nicht mehr wegzudenken - wenn man in andere Kulturen schaut, die temperierte Musik ohnehin aus ihrer Tradition nicht kennen, ist diese Entwicklung nur folgerichtig in einer Kunst, die sich nicht auf Länder- und Kulturgrenzen einschränken will.

Montag, 8. Oktober 2007

Doppelte Beziehungen

Ensemble musikFabrik gastierte in Hellerau

Der Freitagabend war bei den Tagen der zeitgenössischen Musik in Hellerau von einem weiteren Gastspiel ausgefüllt: Das Ensemble "musikFabrik" aus Nordrhein-Westfalen gastierte im Festspielhaus. Angesichts des Besuches dieser hochrangigen Truppe hätte ich ein ausverkauftes Haus vermutet, doch leider waren erneut lückenhafte Reihen im Auditorium zu verzeichnen, was zur Nachdenklichkeit anregt. Dabei sollte man doch zum 21. Festival der zeitgenössischen Musik erfreut feststellen, dass das Ereignis im Jahreslauf der Neue-Musik-Aktivitäten international einen festen Platz und guten Ruf genießt. Am Programm des musikFabrik-Konzertes lag es jedenfalls nicht, denn man konnte jeweils zwei Stücke von Rebecca Saunders und Wolfgang Rihm hören. Diese Dopplung ließ sowohl den erweiterten Blick auf das OEuvre des einzelnen wie auch Hör-Beziehungen zwischen den beiden Komponisten zu. Letztere sind schon allein durch die Tatsache vorhanden, dass Saunders bei Rihm in Karlsruhe studiert hat. Eine direkte Übereinstimmung läßt sich wohl in der Entfaltung von Klangmaterial und in der Linienbehandlung feststellen. Beide pflegen die genüssliche Inkonsequenz und den Klang-Sinn, und beide Komponisten haben sichtliche Freude am virtuosen "Instrument", das dieses hochwertige Neue-Musik-Ensemble darstellt. Spannend war auch die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Werke. Eine Programmänderung fiel da kaum ins Gewicht, denn die Gegenüberstellung von "Dichroic Seventeen" mit "a visible trace" von Rebecca Saunders war spannend genug. Auf der einen Seite erklang ein schroffes Werk mit einer extremen Ausdrucksspanne in der unteren Frequenzwelt der Musik. "a visible trace" hingegen war lichter in der Klangauswahl, die im Titel angedeutete "Spur" konnte man durchaus verfolgen - Entstehen und Vergehen war das Thema dieses weitaus ruhigeren Stückes, das langsam und sanft ausklang.
Polaritäten gibt es auch im Werk von Wolfgang Rihm zu beobachten. Auch die beiden von ihm vorgestellten Werke hatten deutlich verschiedene Akzente: "Séraphin-Sphäre" beschreibt eher Abläufe und Entwicklungen, die zumeist kreisförmig oder ziellos verlaufen. Diese absichtsvolle Langatmigkeit führt allerdings nicht gerade zu einem entspannten Zuhören, nach einer Weile ermüdet die Materialschlacht im immergleichen Ensemble-Klang und erreicht kaum emotionale Höhenflüge. Völlig anders gibt sich "Nachschrift - eine Chiffre" aus dem Chiffren-Zyklus von Rihm: kraftvoll gestaltete Momente sind dies, die fast an seine frühen Orchesterwerke erinnern. Säulenklänge, Repetitionen, harte Attacken und immer wieder ein abruptes Kippen eines gestauten oder gestauchten Klanges führte zu einer hochdramatischen Darstellung, die dem Ensemble musikFabrik unter Leitung von Emilio Pomarico in faszinierender Weise gelang. In allen Werken des Abends überzeugte das Ensemble durch "Punktlandungen" bezüglich der Genauigkeit, dazu kommt die enorme Virtuosität jedes einzelnen Spielers und doch hat man das Gefühl, dass alle Musiker den gemeinsamen, einenden Gedanken der jeweiligen Partitur genau nachvollziehen. Das Konzert war ein toller, lebendiger Beitrag zur Musik der Gegenwart, die, wenn man es genau nimmt, über das Jahr weg viel zu wenig in Dresden erklingt.

Freitag, 5. Oktober 2007

Schattenrisse und Momentaufnahmen

Versuch eines "philosophischen Konzertes" in Hellerau

Mit einiger Vorab-Verwirrung konnte man dem Konzert am Mittwochabend im Festspielhaus Hellerau im Rahmen der "Tage der Zeitgenössischen Musik" begegnen. Angekündigt war das italienische Ensemble "Alter Ego" mit der deutschen Erstaufführung von fünf philosophischen Kantaten: fünf namhafte Komponisten widmeten sich fünf Philosophen der Gegenwart unter den Fragestellungen "Welchen Klang hat ein Gedanke?" oder "Wie singt die Vernunft?". Die Verwirrung lag eher in der Unmöglichkeit der Vorstellung, hier einem "normalen" Konzertabend beizuwohnen, dementsprechend erschien auch das Wörtchen "komplex" schon gleich in der recht dürftigen Programmbeschreibung. Insgesamt dürftig blieb auch die Essenz des Konzertes, und dies vor allem, weil schon der Anspruch der Annäherung, nicht einmal der Darstellung geschweige denn der Rezeption oder Interpretation, an die fünf verschieden Persönlichkeiten nicht eingelöst wurde - Überforderung stellte sich sehr schnell ein, denn kaum ein Stück dauerte über eine Viertelstunde und man fiel von einem Kosmos in den nächsten. Heraus kamen auf diese Weise Blitzlichter, Schattenrisse und Momentaufnahmen. Gerne hätte man sich eingehendere Beschäftigung gewünscht, dazu hätte aber der Konzertcharakter aufgebrochen werden müssen: Anwesende Komponisten, ein diskutierendes Publikum oder ein umfassenderes Porträt wenigstens einer der fünf Philosophen hätte zu mehr Tiefe geführt. Es blieb beim Anriss: fünfmal las Ahmad Mesgarha ebenfalls skizzenhafte Texte der Philosophen (die erwähnten Interviews, auf die sich die Komponisten bezogen haben, dürften im Original weitaus länger gewesen sein), dann startete die "Philosophische Musik" oder die "musikalisierte Philosophie" in zumeist ansprechender Interpretation des Ensembles, ab und an war allerdings ein gleichmütiger Charakter zu bemerken, was wohl mit dem puren Abspielen der Noten innerhalb der Laufzeit der Videos zusammenhing. Ein Dirigent hätte hier Positiveres bewirkt. In Verbindung mit Videokunst und Elektronik war zumindest Abwechslung garantiert, denn die denkbar weit auseinanderliegenden Themen der Philosophen gesellten sich zu ebenso ästhetisch unvereinbaren Komponistenpersönlichkeiten wie David Lang und Helmut Oehring. Das sorgte für teilweise absurde Ergebnisse. Der Amerikaner David Lang meinte mit chirurgischen Bildern und einer Muzak-nahen, eiskalt-emotionslosen Komposition Noam Chomsky kommentieren zu müssen, was ebenso misslang wie die etwas holprige Annäherung von Claude Lenners an den Denker Emmanuel Levinas - Musik, die binnen Minuten vergessen wurde sowie Texte und Bilder, die allerhöchstens eine Scherbe im Kosmos des Philosophen darstellten. Erfreulich kretiv waren allerdings die drei weiteren Beiträge des Konzertes: Helmut Oehring überraschte mit einer punktgenauen Meta-Sprache, die er dem Neurobiologen Oliver Sacks unterlegte und damit wirklich der Kleistschen "Verfertigung der Gedanken beim Sprechen" nahekam. Der Amerikaner Philip Jeck, Erfinder der Scratching-Technik, konnte über eine flächige, ruhige und differenzierte Musikgestaltung zumindest den Grundtopos Sprache-Poesie sowie Leben-Tod von Hans Georg Gadamer berühren. Das am stärksten berührende Werk war jedoch Luca Francesconis "Porträt" von Norberto Bobbio, einem italienischen Philosophen. Von Musik wie Wort ging gleichermaßen eine hohe Energie und Aussagekraft aus, die "Schieflage" der modernen Welt wurde ebenso radikal wie ehrlich über die Bühnenrampe gelärmt.

Montag, 1. Oktober 2007

Schriller Herbst in der Linie 8

Klanginstallation der "Tage der zeitgenössischen Musik" in der Straßenbahn



Wer im Berufsverkehr derzeit in die Straßenbahn der Linie 8 steigt, kann unter Umständen sein blaues, nein, sein lila Wunder erleben. Eine Sonderfahrt der Linie fährt - unangekündigt, ohne Fahrplan - mit getönten Scheiben sowie mit einer Audioinstallation des Berliner Künstlers Georg Klein durch die Stadt. Der Blick aus dem Fenster führt zu neuer Seherfahrung: Schrill leuchtet der Herbst an den Bäumen, Ampeln, Scheinwerfer und farbige Plakate scheinen in ihren Farben extrem verstärkt. Die mobile Klanginstallation ist ein Projekt der 21. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik, die somit in die Stadt hineintönen, nicht an herkömmlichen Konzertorten, sondern mitten hinein in die Lebenswelt der Dresdner, die überrascht, aber zumeist neugierig reagieren. Leider ist außer einem kleinen Aufkleber außen und dem Hinweis "Sonderfahrt" kaum Information über diese besondere Bahn vorhanden (der im "Baustellenkasten" angebrachte Text ist bei den Lichtverhältnissen eh kaum auffind- und lesbar) sodass die von manchen geäußerte Frage: "Was ist denn das hier?" keinen rechten Antwortgeber findet. In der Bahn selbst herrscht durch die lila abgeklebten Scheiben visuelle Dämmerstimmung, allerdings sorgen 111 kleine Lautsprecher von Zeit zu Zeit für akustische Akzente. Mal ist das Eigengeräusch der Bahn verstärkt und verzerrt, mal werden Texte und Stimmengewirr eingeblendet. Den beiden Damen, die an der Stauffenbergallee möglicherweise aus einem hektischem Büroalltag in die Bahn eingestiegen sind, ist das gar nicht recht: "Da kriegste ja ne Meise". Die Handy-Kamera wird dennoch gezückt, die lila Bahn ist was Besonderes. In jedem Fall fördert die Kunst-Bahn das Miteinander der Fahrgäste: man spricht sich an, wundert sich, staunt. Die Reaktionen der Mitfahrer an diesem verregneten Mittwochnachmittag schwanken von verzückt bis genervt. Eine junge Dame kann sich nicht sattsehen an der lila getönten Außenwelt im Fenster, andere lauschen bedächtig den aufgezeichneten Nachrichtenmeldungen aus den kleinen Lautsprechern: Wirtschaft, Wachstum, mathematische Gleichungen, Management, Ziele, Statistiken - das sind die Hauptthemen der oft nur in Fetzen verständlichen Botschaften, daher ist die Betitelung des Projektes "meta.stasen" (Wucherungen) auch sinnfällig. Warum aber das Thema Wachstum in einer Straßenbahn auf diese Weise zur Diskussion gestellt wird, will nicht einleuchten. Die Bahn befördert lediglich Menschen von A nach B, und jene haben in ihrem zumeist produktiven Berufsalltag sicherlich oft genug mit dem Begriff zu tun; es wirkt nicht sehr einladend, wenn der ohnehin mit Anstrengung belastete Begriff auch noch in der Bahn auf die Menschen eindringt, zudem in einer Nachrichtenform, die gerne nebenbei konsumiert wird und im öffentlichen Raum der "Berieselung" nahekommt. So ist die Genervtheit einiger Mitfahrer durchaus verständlich: warum projiziert Georg Klein künstliches Stimmengewirr in eine Bahn, wo ohnehin der akustische Stressfaktor der urbanen Gegenwart hoch genug ist? Eine Auseinandersetzung mit der Mobilität, Begriffen wie Geschwindigkeit oder Bewegung hätte auditiv womöglich "stressfreier" umgesetzt werden können, vor allem auch mit poetischen Elementen, die ein Einlassen auf die künstlerische Situation erst einmal emotional ermöglichen. So aber wollen die Sprachfetzen nicht zu den lila Scheiben passen, die verzerrten Straßenbahngeräusche bleiben verzerrte Straßenbahngeräusche und vielleicht macht man es am besten wie die junge Dame vor mir auf dem Platz: MP3-Player in die Ohren und sich in die vorbeiziehende lila Welt träumen.

meta.stasen - Sonderfahrt der Linie 8, Südvorstadt-Hellerau
täglich 14-22 Uhr bis 7. Oktober

[Nachtrag: Samstagabend zufällig erneute Fahrt mit der Bahn und die Überraschung: der erste, "normale" Wagen war völlig leer, und im Klangkunst-Wagen drängelten sich die Leute...]

Dienstag, 25. September 2007

Achtsames Miteinander

Orgel und Tanz beim Abschluss des Strehlener Orgelsommers

Es ist eine gute Tradition, dass Eleven der Palucca-Schule Dresden immer wieder einmal die Schulmauern am Basteiplatz verlassen, um sich in der Stadt bei verschiedenen Veranstaltungen auszuprobieren und zu präsentieren. Bei der Mitwirkung in Inszenierungen der Dresdner Theater, in Performances mit anderen Hochschulen ist der Tanz in der Stadt präsent und das Publikum kann sich auch ein Bild von der Ausbildung in der Hochschule machen. Ein sehr beliebtes "Format" in dieser Hinsicht ist die Kombination Orgel und Tanz. So war es eine glückliche Fügung, dass zum Abschluss des Strehlener Orgelsommers in der Christuskirche ein solcher Abend ermöglicht wurde, der musikalisch wie tänzerisch komplett auf Improvisation basierte - an der Schule übrigens ein wichtiges Unterrichtsfach, das nicht nur besondere Ausdrucksfähigkeiten des Körpers schult, sondern im Modernen Tanz unerlässlich ist. Matthias Zeller, seines Zeichens Korrepetitor an der Palucca-Schule improvisierte an der Jehmlich-Orgel, dazu füllten fünf Tänzer den Kirchenraum aus, was von erster vorsichtiger Erkundung bis zur Eroberung des Altarraums und der Gänge und Emporen reichte. Erstaunlich war der große Atem der Aufführung: ohne akustische wie visuelle Pause schufen die Protagonisten ein Spannungsband, das niemals überfrachtet aber auch nicht langweilig wirkte. Denn die fünf Tänzer Matthias Markstein, Teresa Lucia Forstreuter, Maria Nitsche, Andreas Starr und Eila Schwedland sorgten für ein achtsames Miteinander und abwechslungsreiche Momente zwischen Soloimprovisation und verschiedenen Situationen im Duett oder Trio. Spannend war auch, was Zeller mit der Orgel anstellte - ein schier unerschöpflicher Vorrat an harmonischen Wendungen, Themenerfindungen und formales Gespür sorgte dafür, dass sich auf natürliche Weise ein dramaturgischer Faden sponn. Verschiedene Bewegungsformeln kamen den Tänzern dabei entgegen, Zeller wechselte auch immer einmal zwischen homophonen, flächigen Abschnitten und kontrapunktisch dichten Phrasen.
Aus dem Moment entstehende, ursprünglich wirkende Eindrücke waren dies, zudem gestalteten die Tänzer zwischen extremer Dramatik und gut angelegten Ruhepunkten immer wieder eine Polarität, die zum abwechslungsreichen Orgelspiel passte. Kurzum: wer sich auf diese ungewöhnliche Darstellungsform einließ, konnte den Abend mit Gewinn genießen und erlebte entweder den Tanz oder auch die Orgel auf eine neue, interessante Weise.

Freitag, 14. September 2007

Mutiges Streiten für die zeitgenössische Musik

10 Jahre "ensemble courage"

Seit nunmehr 10 Jahren besteht in Dresden das Spezialensemble für zeitgenössische Musik "ensemble courage", und es hat allen Grund zu feiern, das zeigt die bewegte Geschichte des ersten Jahrzehnts: 1997 fanden sich einige junge Musiker in Dresden zusammen, um zunächst eine Lücke in der Stadt zu schließen - abgesehen von einigen adhoc in Erscheinung tretenden Ensembles gab es kein festes Kammerensemble für zeitgenössische Musik. An der Dresdner Musikhochschule erkannte der Komponist Benjamin Schweitzer den Handlungsbedarf, nachdem sich für die Uraufführungen der Komponistenklasse immer wieder studierende Instrumentalisten zusammenfanden, die großes Engagement weit über die einzelnen Projekte hinaus zeigten. Schweitzer übernahm die Gründung und die künstlerische Leitung des Ensembles. In den folgenden Jahren mauserte sich das Ensemble nicht nur zum regional profiliertesten Neue-Musik-Ensemble, spezielle Programmdramaturgien und die kontinuierliche Zusammenarbeit mit ansässigen Veranstaltern und Festivals für neue Musik garantierten den Musikern Auftritte und somit die Möglichkeit, sich von Konzert zu Konzert weiterzuentwickeln. Immer wieder war das Ensemble bei der Konzertreihe "Global Ear", Veranstaltungen der Sächsischen Gesellschaft für Neue Musik, dem Sächsische Musikbund und vor allem beim Europäischen Zentrum der Künste Hellerau, vormals Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik, zu Gast. Im Jahr 2000 wurde der Schweizer Titus Engel zum ständigen Dirigenten des Ensembles berufen. Bereits in den ersten Jahren zeigte sich eine deutliche Profilierung des "ensemble courage": je nach Programm kann vom Solowerk bis zur großen Kammerbesetzung variiert werden, somit sind viele thematische Fäden möglich. Der Begriff einer "durchdachten Vielfalt" trifft wohl die Dramaturgie der bisherigen Konzertprogramme am besten: war es bei Gründung des Ensembles das Hauptanliegen, die internationale, vor allem junge Moderne der zeitgenössischen Musik in den Osten der Republik zu bringen, wo selbst viele arrivierte Komponisten der älteren Generation kaum rezipiert werden, so hat sich vor allem die Pionierarbeit bei jungen unbekannten Komponisten aus aller Welt in den zehn Jahren des Bestehens des Ensembles als Konstante erwiesen. Rund 200 Werke hat das Ensemble seither dem Publikum vorgestellt, ein Gutteil davon als Uraufführung oder deutsche Erstaufführung - manche Komponisten aus Asien oder Russland dürften mit dem ensemble courage ihre überhaupt erste Aufführung in der westlichen Welt genossen haben - ein wahrhaft "globales" Engagement also. Wesentlich war auch der Einsatz für die zeitgenössische Musik sächsischer Komponisten, in vielen Konzerten z.B. mit Werken von Christian Münch, Matthias Drude oder Wilfried Jentzsch führte das Ensemble den Beweis, wie vielfältig sich die aktuelle, moderne Musiklandschaft Sachsens darstellt. Die workshopartige Erarbeitung neuer Werke und Aufführungskonzepte ist für die Musiker fester Bestandteil eines jeden Projektes. Anregungen für neue Programme entstehen oft direkt aus dem Ensemble heraus und können thematisch-ästhetische Prägungen aufweisen oder auch ungewöhnliche Besetzungen oder Klang-Wanderungen formen. Konzerte mit neugeschaffenen Kurzopern, Raum-Musik ("Changes" von Gerhard Stäbler in der Galerie Neue Meister, 1999) oder Experimente mit DJs ("Subwoofer" in der Scheune, 2005) und elektronischer Musik verdeutlichen die Flexibilität eines Ensembles, das die Spannungen, die beim intensiven Ausloten und Übertreten von Genregrenzen entstehen, zu schätzen weiß. Dafür steht auch das konzertante Aufeinandertreffen von ensemble courage mit dem britischen Ensemble Apartment House im Dresdner Goethe-Institut (2005), das nicht nur das doppelte Erklingen neuer Werke ermöglichte, sondern gleichzeitig zu einem Interpretationsvergleich einlud. In den letzten Jahren führten Gastspiele das Ensemble verstärkt zu vielen wichtigen Konzertreihen in Deutschland, es reiste unter anderem zu den Weimarer Frühjahrstagen, zu den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, zu den ARS NOVA Konzerten des Südwestfunks und zur Villa Massimo nach Rom. Mit Unterstützung des Goethe-Institutes gab das Ensemble Konzerte in Taschkent/Usbekistan und Ljubljana/ Slowenien. Viele Konzerte des Ensembles wurden von überregionalen Rundfunksendern mitgeschnitten und ausgestrahlt; 2002 erschien die erste CD bei dem Label en avant. Für das kontinuierliche und beharrliche Engagement auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik erhielt das Ensemble 2004 den Förderpreis der Landeshauptstadt Dresden. 2006 haben Oliver Schneller und Carsten Gerth die künstlerische Leitung des institutionell ungebundenen Ensembles übernommen. Der Dirigent Titus Engel betonte im Gespräch in aller Bescheidenheit, dass man "nach 10 Jahren erst am Anfang stehe", der Phase des Ausprobierens, der Heimatfindung in Dresden selbst und der internationalen Etablierung des Ensembles werden nun neue Ziele und Projekte folgen. Dazu gehört in nächster Zeit u.a. eine USA-Tournee und die Installierung eigenveranstalteteter Konzerte in Dresden, das Konzert am Sonnabend bildet den Beginn dieses neuen Engagements. In der Thematik "Neue Musik über drei Weltreligionen" wird es ein nahezu typisches Programm des Ensembles sein: zeitgenössisch, unbequem und zum Nachdenken anregend. Zur Gratulation wird dann am 4.10. im Rahmen der Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik geladen: das Jubiläumskonzert in Hellerau in großer Besetzung wird u.a. Werke von Gerhard Stäbler, Benjamin Schweitzer (Uraufführung eines Auftragswerkes) und Iannis Xenakis präsentieren. Dresden hat als vielgestaltige Kulturstadt auch eine lebenswichtige Tradition in der Pflege der modernen Kunst, das ensemble courage bildet seit 10 Jahren eine feste Säule im Kulturleben und wird auch hoffentlich in Zukunft mit der dem Ensemble innewohnenden Offenheit zur Entwicklung der Moderne in Dresden und weit darüber hinaus beitragen.
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15.9.07, Dreikönigskirche, 20 Uhr, Sacro Monte - "Neue Musik über drei Weltreligionen", Werke von Haddad, Corbett, Harvey, Liang, Haas, Odeh-Tamini, Hirs
4.10.07, Festspielhaus Hellerau, 20 Uhr, Jubiläumskonzert 10 Jahre Ensemble Courage, Werke von Sciarrino, Schwencke, Stäbler, Haas, Combier, Schweitzer und Xenakis

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