Rezensionen

Montag, 27. November 2006

Kontrastreicher Dialog zwischen Leipzig und Litauen

Porträt von Bernd Franke und Mindaugas Urbaitis im Blockhaus

Eigentlich könnte das "binationale Gesprächskonzert" in der Sächsischen Akademie der Künste Vorbild für ähnliche Veranstaltungen mit zeitgenössischer Musik sein. In der schon im letzten Jahr begonnenen Reihe stellt sich ein Komponist der Akademie mit einem Werk vor und bringt einen weiteren Komponisten mit, dessen Musik Ansatzpunkt für einen Dialog bildet. So entsteht eine Stunde Musik, dazu lernt man die Komponisten kennen, erfährt im Podiumsgespräch (moderiert von Dr. Jörn-Peter Hiekel) Details aus der Werkstatt oder auch Gedanken zur Gesellschaft und zur Kunst, die die Tonschöpfer aktuell bewegen. Am Mittwoch stellten sich im Blockhaus der Leipziger Komponist Bernd Franke und der litauische Komponist Mindaugas Urbaitis mit jeweils einem Streichquartett vor. Erschreckend war dabei, wie wenig wir vom reichhaltigen Musikleben Litauens kennen: der Namensgeber der Interpreten, Mikolajus Constantinas Ciurlionis, ist zumindest im Osten der Republik noch ein Begriff. Die Verbreitung und auch die spezielle Faktur der Musik ist historisch begründet; Mindaugas Urbaitis betonte im Gespräch den Wendepunkt, der bei vielen osteuropäischen Komponisten Mitte der 70er-Jahre im OEuvre zu beobachten ist. Bernd Franke erinnerte außerdem an die "singende Revolution" im Baltikum - lebendige Musik als Zeichen von Identität und Heimat wird dort anders gepflegt als hierzulande. Die Hinwendung zu minimalistischer beziehungsweise reduktiver Musik ist in Litauen dagegen nicht nur mit Begeisterung für Amerika zu erklären, sondern liegt sogar in der eigenen Volksmusik begründet. So war Urbaitis' "Quartetto per archi" auch ein Stück, dass mit wenig Material vor allem bewegte Flächen erzeugte. Die schwebende Atmosphäre wurde vom Ciurlionisquartett aus Vilnius treffend widergegeben. Einen starken Kontrast bildete das uraufgeführte Quartett "The way down is the way up" von Bernd Franke, dennoch gab es eine Gemeinsamkeit in der Bearbeitung der "musikalischen Freiheit" innerhalb einer Partitur. Franke gestaltete in sechs knappen Sätzen deutliche Pole zwischen gestauter Energie und frei fließenden Gedanken. Auch dieses Werk interpretierten die litauischen Musiker mit großem Engagement und einer hohen Spielkultur. Die insgesamt gelungen zu nennende Konzertform ist in zwei Punkten noch verbesserungswürdig: wenn die Hochschule für Musik als Kooperationspartner annonciert ist, wundert man sich (auch in anderen Konzerten in der Stadt) stark, wo denn die Studenten überhaupt sind. Das Konzert vermittelte neue Musik auf angenehme, lockere Weise, außerdem wäre Kontakt zu Interpreten und Komponisten möglich - somit entgangene Chancen. Der zweite Fakt ist ebenfalls oft beobachtet: in Gesprächskonzerten schweigt das Publikum beharrlich, obwohl sich jeder seine Gedanken macht. Das ist nicht zuletzt für die Komponisten schade, für die das Feedback zumeist eine wichtige Grundlage der Arbeit bedeutet.

Mittwoch, 15. November 2006

Mozart, Ungarn und die Niederlausitz

Spannungen 7 der "Sinfonietta Dresden" in der Dreikönigskirche

Als man am Samstag beim siebte Konzert der Reihe "Spannungen" angesichts der fast bis auf den letzten Platz gefüllten Dreikönigskirche die sorgenvollen Worte des Dirigenten Milko Kersten vernahm, konnte man es eigentlich nicht recht glauben: diese Konzertreihe soll in Gefahr sein? Sie ist es, denn die Förderung durch Kulturstiftung und Stadt alleine reicht für ein solch aufwändiges Projekt nicht aus, die Förderungssituation durch Sponsoren aus der Wirtschaft sei aber in Dresden anhaltend schwierig, so Olaf Georgi, Leiter der Sinfonietta Dresden. Die Durchführung dieses siebten Konzertes war vor allem durch das Bekenntnis der Musiker zur Fortführung der Reihe gesichert, doch da sich auf Enthusiasmus allein schwerlich ein Orchesterkonzert stemmen läßt, sei hier der Aufruf zur Unterstützung gerne wiederholt - wenn ein Dresdner Ensemble nicht nur die zeitgenössische Musik in Sachsen und Osteuropa dermaßen fördert, sondern in jedem Konzert auch noch zwei jungen Pianisten ein Podium für eine Mozartinterpretation bietet, sollte dies Anlass genug sein. Zu hoffen ist, dass Kersten im nächsten Konzert im Frühjahr die positive Nachricht vermelden kann, dass die verbleibenden vier Konzerte finanziell abgesichert sind. Es wäre tragisch für das Engagement der Musiker, wenn eine so wunderbare Konzertidee auf halber Strecke abgebrochen werden müßte. Gesichert ist auf jeden Fall die Treue eines Publikums, dass nicht nur das Erlebnis verbuchen kann, alle Klavierkonzerte Mozarts im Konzert gehört zu haben - das Hörabenteuer ist verbunden mit Uraufführungen und Werken osteuropäischer Komponisten. Am Samstag zeigte der Kompass nach Ungarn: Der in Budapest lebende und lehrende Komponist István Lang (geb. 1933) demonstrierte mit dem Stück "Cimbioses", dass Heimatverbundenheit und Avantgarde keinen Widerspruch bilden muss, denn das in der Komposition solistisch verwendete, aus der Volks- und Zigeunermusik stammende Zymbal, gespielt von Enikö Ginzery, wurde in die moderne Faktur eingebettet und bildete gerade mit dem Schlagwerk eine reizvolle Verbindung. Das neunteilige Werk war abwechslungsreich gestaltet, aber nicht überladen, die kleine Besetzung der Sinfonietta unter Milko Kersten gestaltete es transparent. Eine spannende Wiederbegegnung mit dem in Dresden geborenen und ausgebildeten Komponisten Uwe Krause war nach der Pause zu erleben: "...Land in Sicht..." setzt sich mit der Landschaft der Niederlausitz und seinen Menschen auseinander, Krause lebt seit einigen Jahren dort und hat Eindrücke und Erkenntnisse in einem vitalen, durchaus naturalistischen Werk verarbeitet, das vor allem von emotionalen Gegensätzen lebte. Den Rahmen bildeten zwei Klavierkonzerte von Wolfgang Amadeus Mozart, die Milko Kersten in der von Mozart selbst ausdrücklich vorgesehenen Fassung mit Streichorchester aufführte. Dem Solisten des Konzertes F-Dur KV 413 kam da der schwierigere Part zu, da dieses Werk nicht unbedingt "von selbst" seine Schönheiten entfaltet. Der aus Russland stammende Dresdner Meisterklassenschüler Denis Ivanov konnte allerdings über eine solide Technik hinaus mit dem Stück wenig anfangen, manche Flüchtigkeiten im 1. Satz und zu wenig deutliche Zeichnung zeigte einen eher distanzierten, objektiven Zugang, wobei der 3. Satz hier am besten gelang. Ganz anders ließ sich sein "Kollege", der Lette Vadim Chaimovich, auf Mozarts Erfindungen ein. Was dieser im Konzert C-Dur KV 415 an Nuancen, Fluss und Lebendigkeit zeigte, war eine kleine Sensation. Chaimovich musizierte auf den Punkt genau, zeigte eigenwillige, aber schlüssige Kadenzen und demonstrierte einen durchweg perlenden, klangintensiven Anschlag - das Zuhören wurde so zum reinen Vergnügen. Optimal vorbereitet und nur in manchen Passagen noch etwas vorsichtig agierend zeigte sich in den Konzerten die Sinfonietta Dresden - das Konzert "Spannungen 8" am 5. Mai 2007 sollte man sich bereits vormerken.

Montag, 30. Oktober 2006

Halsbrecherische Raritäten

3. Zykluskonzert der Dresdner Philharmonie

Der junge amerikanische Dirigent John Axelrod scheint das Risiko zu lieben. Wie sonst gelänge in einem Konzert gleichzeitig die vertrackte Bernstein-Serenade und die zwischen Genie und Wahnsinn liegende Partitur der Sinfonie in Fis, Opus 40 von Erich Wolfgang Korngold auf das Programm? Noch dazu die allzu bekannte Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 von Ludwig van Beethoven, die interpretatorisch keinesfalls zum "Einspielstück" verkommen darf? Axelrod wagte dieses Experiment, und er gewann. Der Chefdirigent des Sinfonieorchesters Luzern zeigte als Gast im 3. Zykluskonzert der Dresdner Philharmonie, was sein Können ausmacht. Sein Charisma sorgte über den ganzen Abend hinweg für den überspringenden Funken und konnte so vergessen machen, dass da eigentlich halsbrecherische Noten auf den Pulten lagen. Zunächst bewies er jedoch Sinn für Stil und sensible Klangzeichnung in der Beethoven-Ouvertüre, die er mit allerhand dynamischer Abstufung versah. Dabei behielt er stets einen natürlichen Fluß bei, der zu einer spannenden Interpretation führte. Schon hier war klar, dass sorgsame Proben und inspirative Spielleitung ein kluges Verhältnis eingingen. Leonard Bernsteins Serenade für Violine, Harfe, Streicher und Schlagzeug dürfte zumindest Fragen aufwerfen, wenn man den Titel des Werkes wörtlich nimmt. Hinter dem nur scheinbaren Lyrismus des Begriffes verbirgt sich ein mit vielfältigen Verrücktheiten gespicktes komplettes Violinkonzert, zudem ein "typischer" Bernstein, was die Bandbreite der Ästhetik angeht. Wolfgang Hentrich, Konzertmeister der Dresdner Philharmonie, widmet sich als Solist gerne Raritäten und Werken des 20. Jahrhunderts, seine Darstellung des Hindemith-Konzertes etwa ist noch in bester Erinnerung. Mit der "Serenade" präsentierte er Bernsteins vielgestaltigen Klangbilderbogen auf überzeugende Weise. Der im Hintergrund der Komposition stehende philosophische Diskurs aus Platos "Symposion" war vom Wort in die Noten gewandert, die außerordentlich sportliche Komponente der "Serenade" ist ja durch das Land des Olymps ebenfalls historisch begründbar. Hentrichs Übersicht, Souveränität und vor allem sein konsequenter Zugriff in den schnellen Teilen war eindrucksvoll, das Werk selbst verstörte in seinem parlierenden Stilmix dann doch zu sehr. John Axelrod hatte hier bereits mit dem Streicherapparat des Orchesters eine Menge zu tun, das war jedoch noch nichts verglichen mit der "Arbeit", die nach der Pause auf ihn wartete. Erich Wolfgang Korngold schrieb auf dem Zenit seines Schaffens 1950 seine erste und einzige Sinfonie. Komponistenkollegen wie Zimmermann, Henze, Messiaen dürften für ihn fremde Gestalten gewesen sein, seine Musik bewegt sich strikt im bis zum Zerreißen gespannten tonalen Feld der Jahrhundertwende, verläßt dieses jedoch nie. Die Sinfonie fasziniert dennoch durch unzählige Ebenen und Verästelungen, durch famoses Glitzern, luzide Soli und unerwartete Stimmungsumschwünge. Dass man trotz der enormen Anforderungen der Partitur gebannt zuhörte, ist Axelrods dirigentischer Leistung zu verdanken, die bei den Philharmonikern entfesseltes Spiel entfachte. Sicher gibt es bei solch einem Opus noch Reserven, doch allein das "Adagio" mit einer ruhig ausmusizierten Schwermut war eine Glanztat des Abends. Immer wieder führte Axelrod die Philharmoniker zu organischen Steigerungen und zeigte in diesem Werk plastisch alle Facetten des "Korngoldschen Orchesters": schillernde Farbenspiele, überzeugend dargeboten.

Samstag, 28. Oktober 2006

Gesichter und Geschichten von 'Lennie'

John Axelrod gastiert im 2. Zykluskonzert der Dresdner Philharmonie


(Quelle)

Die Konzertbesucher der Dresdner Philharmonie dürften das erste Gastspiel des amerikanischen Dirigenten John Axelrod noch in lebhafter Erinnerung haben: im März sprang Axelrod sehr kurzfristig ein und gestaltete mit dem Geiger Daniel Hope eine fulminante Interpretation des 1. Violinkonzertes von Dmitri Schostakowitsch. Nun steht Axelrod erneut am Pult der Philharmonie und stellt neben Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 die Sinfonie in Fis von Erich Wolfgang Korngold und (als Dresdner Erstaufführung) die Serenade für Violine, Streicher, Harfe und Schlagzeug von Leonard Bernstein vor. Das ungewöhnliche Programm wirft ein Schlaglicht auf Axelrods Verständnis von Musik: die Kommunikation mit dem Publikum und die Erschließung neuer Wege in der Vermittlung der Musik stellen für ihn wichtige Arbeitsfelder dar. Im äußerst lebendigen Gespräch mit John Axelrod wird diese Kommunikation sofort plastisch, denn dieser Dirigent lebt die Musik nicht nur auf der Bühne, sie ist allgegenwärtig. Arbeiten, lieben, spielen seien stetige Grundbedürfnisse; Axelrod ist das exzessive Spielen mit seiner zweijährigen Tochter Tallulah ebenso wichtig wie die unteren Schichten der Korngold-Sinfonie zu erforschen. Tallulah? Genau, dies war die Rolle von Jodie Foster in dem Film "Bugsy Malone" - Axelrod schwenkt zum Klavier und gibt sofort einen Song aus dem Film zum Besten. Gelernt hat der Texaner Axelrod, der seit drei Jahren Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters ist, das Handwerk u.a. bei Christoph Eschenbach und Leonard Bernstein. Von letzterem nahm Axelrod die "Unausweichlichkeit der Abfolge der Noten" als Erkenntnis mit. Was lapidar klingt, wird zur großen, bewussten Verantwortung vor dem jeweiligen Komponisten, dessen Partituren erst zum Klingen gebracht werden müssen. Tradition schließe das Experiment nicht aus, dies spricht auch aus seinen Luzerner Programmen, die einen Schumann-Zyklus ebenso umfassen wie viele Ur- und Erstaufführungen. Die "Serenade" von Bernstein mag zwar mit Platos "Symposion" einen tiefgründigen Hintergrund haben, Axelrod bringt das Werk auf überraschende Weise auf den Punkt: es sind die Gesichter und Geschichten von 'Lennie'. Erneut geht es ans Klavier, Axelrod erläutert, dass Motive der Serenade auch in Bernsteins Oper "Candide" zu finden sind. Ein "Hickup"(Schluckauf)-Motiv ist ebenso vertreten wie leichte Jazzanklänge, ein Cocktail im besten Sinne sei dies. Axelrod freut sich außerordentlich auf das Konzert, er lobt den Solisten Wolfgang Hentrich ebenso wie das "fantastische Instrument", die Dresdner Philharmonie, mit der sich die Zusammenarbeit wunderbar gestaltet, weil ein "guter Esprit" die Proben bestimmt. Dresden selbst stellt Axelrod in eine Reihe mit Venedig und Krakow (letzteres seine zweite Wirkungsstätte neben Luzern) und vergleicht es mit einer Blume, die immer neu in wechselnden Facetten erblüht. "Step by step" - "eins nach dem anderen" meint Axelrod auf die Frage nach weiteren zukünftigen Projekten mit der Philharmonie, doch das erwartungsvolle Leuchten in seinen Augen ist unverkennbar.

3. Zyklus-Konzert der Dresdner Philharmonie
28./29.10.2006, 19.30 Uhr
Festsaal des Kulturpalastes am Altmarkt
Ludwig van Beethoven: Leonoren-Ouvertüre Nr. 3
Leonard Bernstein: Serenade für Violine, Harfe, Streicher und Schlagzeug nach Platos "Symposion"
Erich Wolfgang Korngold: Sinfonie in Fis, Opus 40

Wolfgang Hentrich, Violine
Dresdner Philharmonie,
Ltg. John Axelrod

Dienstag, 24. Oktober 2006

"Hoffentlich nie ein Endpunkt"

Überbrückung von Zeit und Raum
Reiko Füting ist 1. Preisträger des Kompositionswettbewerbes des Dresdner Kammerchores

Am 31.10. findet in der Semperoper das Preisträgerkonzert des Internationalen Kompositionswettbewerbes des Dresdner Kammerchores statt. Für das Ensemble ist es eine freudige Überraschung (denn die Jury tagte mit 70 eingereichten, anonymisierten Partituren), dass mit Reiko Füting nicht nur ein in Dresden ausgebildeter Komponist, sondern auch ein ehemaliges Chormitglied den 1. Preis erhält. Füting studierte an der Dresdner Musikhochschule Komposition bei Manfred Weiss und Jörg Herchet sowie Klavier bei Winfried Apel, bevor er in Houston/USA seinen "Master of Music" machte. Seit 1997 lehrt er an der Manhattan School of Music in New York, an welcher er seit 2005 eine Professur für Musiktheorie und Komposition hat.

Alexander Keuk sprach mit Reiko Füting über sein neues Werk:

Was war der Grund für Sie, sich bei diesem Kompositionswettbewerb zu beteiligen? War der Bezug zu den Jubiläen des Chores und der Stadt Dresden wichtig?

Der Bezug zum Jubiläum des Chores sowohl der Stadt war mir sehr wichtig. Meine Zeit in Dresden war eine sehr eindrucksvolle für mich, zurückschauened würde ich sagen, dass ich dort "erwachsen" geworden bin.Das verdanke ich meinen Lehrern, hauptsächlich Jörg Herchet und Winfried Apel, aber auch meiner Zeit im Dresdner Kammerchor unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann und der Stadt Dresden an sich.

Sie kennen den Dresdner Kammerchor als ehemaliges Mitglied gut. Ist das Stück dem Chor auf "den Leib" geschrieben? Wenn ja, inwiefern?

Ich verfolge auch von hier die Entwicklung des Chores, soweit es mir möglich ist. Ich denke schon, das Stück dem Chor "auf den Leib" geschrieben zu haben; zum einen bewusst, zum Beispiel durch die konstante Unterteilung der Stimmgruppen und der Verwendung eines Solistenquintetts (der Dresdner Kammerchor besteht aus hervorragenden Sängern), zum anderen intuitiv.

Ihre Komposition ist eine der wenigen der eingereichten überhaupt, die sich auf eine konkrete, traditionelle Musikvorlage bezieht. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Die Idee, mit einer traditionellen Vorlage zu arbeiten, entstand während des ersten Jahres meines Studiums hier in den USA, sicherlich als Ausdruck einer intensiven Suche nach Identität. Zum anderen interessiert mich die Überbrückung von Zeit und Raum, was sicher unter anderem ein Ausdruck meiner zwei Lebensmittelpunkte, New York und Berlin, ist.

Spielt Vokalmusik in Ihrem Schaffen auch sonst eine besondere Rolle? Wenn ja, inwieweit bieten außermusikalische Texte, Literatur eine Anregung?

Vokalmusik spielt eine recht große Rolle in meinem Schaffen. Vor dem Studium in Dresden habe ich als Schüler der Spezialklassen für Musik im Rundfunk-Jugendchor Wernigerode gesungen; eine für mich sehr prägende Zeit. Während meines Klavierstudiums habe ich mich viel mit Liedbegleitung beschäftigt, und vor meiner Rückkehr auch Vokale Korrepetition an der Musikhochschule in Rostock unterrichtet.

Das Lied "Ach weh, deß Leiden" von Hans Leo Hassler bekommt durch die folgende, neue Komposition einen zeitgenössischen Rahmen. Ist es eine "komponierte Interpretation", eine Betrachtung? Oder wie würden Sie die Beziehung beider Stücke beschreiben?

Ich würde mein Stück nicht als "komponierte Interpretation" betrachten, es ist trotz der Gegenüberstellung autonom. Mein Ausgangspunkt zielte auf Ebenen, die subtiler sind, wie zum Beispiel die antiphonale Anlage der Hasslerschen Komposition. Es ist wie das archtitektonische Nebeneinander zwei Gebäude aus unterschiedlichen Zeiten und deren Bezüge zueinander. Wahrscheinlich sind die Beziehungen auf der Ebene des Textes am direktesten.

Mit der Textdichterin Kathleen Furthmann, die den Hassler-Text zeitgenössisch "beleuchtet", arbeiten Sie öfters zusammen?

Kathleen Furthmann hat wie ich die Spezialklassen für Musik in Wernigerode besucht und im Rundfunk-Jugendchor gesungen. Nach dem Studium der Musik und Germanistik arbeitet sie als Lehrerin im Gymnasium in Wismar. Wir haben mittlerweile vier Projekte realisert, und die Zusammenarbeit ist eine sehr schöne, da sie auf offenen Austausch und gegenseitiger Anregung basiert.

Welche Bedeutung hat das Soloquintett im Stück?

Der Gedanke des Soloquintets kommt aus der antiphonalen Anlage der Hasslerschen Komposition. Darüberhinaus entsteht durch seine Einbeziehung eine räumliche Dimension. Diese Gegenüberstellung, die auch im Hasslerschen Text zu finden ist, ist ausserdem in der klanglichen und textlichen Dimension realisiert.

Sie leben seit längerer Zeit in den USA. Ist dies ein Endpunkt? Gab es in Deutschland nicht genug Möglichkeiten zur beruflichen Entfaltung als Komponist? Oder schienen die, die Sie in den USA vorfanden, besonders geeignet?

Hoffentlich kein Endpunkt, hoffentlich nie ein Endpunkt. Es gab hier andere Möglichkeiten. Zudem ist New York eine faszinierende Stadt, mit einer vergleichsweise langen Tradition, die nie zerschnitten wurde. Vielleicht interessiert mich auch das Leben im "Exil". In die USA bin ich durch das Studium gekommen, das interessanterweise in zwei USA
Reisen mit dem Dresdner Kammerchor seinen Anfang fand. Unsere Unterkunft in New York befindet sich direkt neben der Manhattan School of Music. Als hätte sich eine Kreis geschlossen.

Sie arbeiten nun in der Ausbildung junger Musiker - gibt es Unterschiede in der Entwicklung von Künstlern zwischen den USA und Deutschland, wenn Sie beispielsweise Ihre eigene Ausbildung in Deutschland mit der jetzigen Situation an Hochschulen/Colleges in den USA vergleichen?

Die Ausbildung ist recht anders. Die Gründe sind vielfältig, zum Beispiel die sehr unterschiedliche Stellung klassischer Musik im gesellschaftlichen Leben des Landes (es konzentriert sich im wesentlichen auf die großen Städte), was ein anderes Niveau von jungen Musikstudenten zur Folge hat. Oder auch der Einfluss des Universitätssystems, das akademische Fächer in einer musikalischen Ausbildung anders definiert. An den Eliteeinrichtungen, zu denen sich auch die Manhattan School of Music zählt, ist das Niveau sehr hoch, in spezieller wie auch in allgemeiner Hinsicht.

Welche Rolle spielt Dresden in Ihrem Leben heute noch?

Eine grosse, hauptsächlich durch enge persönliche Bekanntschaften, die auch immer wieder in musikalischen Projekten wie Aufführungen und Konzerten enden. Und ich bin sehr dankbar, dass sich dies mit dem Dresdner Kammerchor nun fortsetzen konnte.

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31.10.2006, 11.00 Uhr
Matinee in der Semperoper im Rahmen des 150jährigen Bestehens der Dresdner Musikhochschule
Preisträgerkonzert des Internationalen Kompositionswettbewerbes des Dresdner Kammerchores
Uraufführungen von Reiko Füting, Eunsun Lee, Hauke J. Berheide sowie Werke von Heinrich Schütz und Max Reger
Karten im Vorverkauf der Sächsischen Staatsoper Dresden in der Schinkelwache und an der Tageskasse.

Montag, 23. Oktober 2006

Jubeln sollt ihr!

2. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle

Es stürmt derzeit gewaltig auf der Bühne der Semperoper. Nicht nur in der aktuellen Inszenierung des "Othello" von Giuseppe Verdi, sondern auch im 2. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle. Mit Benjamin Brittens "Vier Seebildern" aus der Oper "Peter Grimes" gab es einen Vorgeschmack auf die Premiere des kompletten Werkes im Februar 2007. Der junge kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin (Debut bei der Sächsischen Staatskapelle) zeigte mit seiner durchdachten, eher die ruhigen Klangschattierungen betonenden Interpretation die orchestrale Raffinesse des Britten-Werkes. Selbst im abschließenden Sturm-Finale blieb Nézet-Séguin der klare Gestalter des Meeresgetümmels. Ein weiteres Debut im Semperbau gab der russische Pianist Kirill Gerstein, in der letzten Saison "Rising Star" an der Carnegie Hall, dennoch ein Vertreter der jungen Generation, der vom Rausch der Medienwelt (glücklicherweise?) noch nicht erfasst ist. Die Wahl des Klavierkonzertes G-Dur von Maurice Ravel war dennoch unglücklich, zusammenfassend muss man feststellen, dass Gerstein die Möglichkeiten dieses Konzertes nicht ausgeschöpft hat. Immer wieder behinderte ein Drang zur Perfektion das feine Perlen dieser Komposition. Die technische Souveränität - Gerstein spielte vor allem im 1. Satz beinahe wie ein Uhrwerk - ist hier so ziemlich die unwichtigste Komponente; der Interpretation fehlte es an Temperament und Tiefgang (besonders im 2. Satz), dabei machte das Orchester die atmenden Melodiebögen des Mittelsatzes doch so wunderbar vor. So erfreute man sich lediglich der Zugabe: bei Sergej Rachmaninows Werken ist dieser Pianist besser aufgehoben. Den 100. Geburtstag von Dmitri Schostakowitsch hat man in diesem Jahr mit vielen Aufführungen weltweit gewürdigt. Einem jeden Dirigenten muss klar sein, dass es ein gefährliches Unterfangen ist, zu diesem Anlass die 5. Sinfonie auf ein Konzertprogramm zu setzen, denn dieses Seelendrama verlangt, Abgründe zu erforschen, zwischen den Zeilen zu lesen und eine Musizierhaltung zu erzeugen, die den besonderen Umständen des kurz nach der öffentlichen Denunziation des Komponisten entstandenen Werkes entspricht. Nézet-Séguin riskierte das Wagnis und formte vor allem durch seine mutige, stets gezügelte Tempowahl eine phänomenale Wiedergabe der Sinfonie. Der kanadische Dirigent ließ viel Raum zum Ausmusizieren, bebilderte den Druck eines Scherzos, das nicht lachen kann und fand den Höhepunkt des Werkes im insistierenden Largo, dessen erschütternde Einsamkeitswelt die Kapelle intensiv darstellte. Sagte der Komponist selbst, das Finale sei ein mit Knüppeln erzwungenes "Jubeln sollt ihr!", so folgte Nézet-Séguin dieser Aussage mit einem fast auf der Stelle tretenden Ausbruch des gesamten Orchesters, der beklemmend wirkte. Vor einer solch exemplarischen, viele Details berücksichtigenden Darstellung dieser Sinfonie durch einen 31jährigen Dirigenten zieht man den Hut - der Jubel des Publikums war deutlich und ehrlich.

Dienstag, 17. Oktober 2006

Senkrechtstart in den Maestrohimmel blieb aus

Hochschulwettbewerb Dirigieren endet mit drei Preisträgern

Wer am Sonntagabend nach exakt vier Stunden Endausscheid des "Hochschulwettbewerbes Dirigieren" die Landesbühnen Sachsen verließ, war auch als Zuhörer bereichert, denn wann hört man schon einmal drei große
Sinfonien der Wiener Klassik in einem Konzert, dazu gleich dreifach das ohnehin selten aufgeführte Trompetenkonzert von Bernd Alois Zimmermann? Doch im Vordergrund der Veranstaltung standen drei junge Dirigenten, die es im an der Dresdner Musikhochschule ausgetragenen Wettbewerb bis ins Finale geschafft hatten. Es war nicht irgendein Wettbewerb: nach Dresden entsandten alle deutschen Musikhochschulen ihre besten Dirigierstudenten. In den Vorrunden standen mit dem Hochschulsinfonieorchester bereits schwere Aufgaben zur Bewältigung an: Werke von Richard Strauss, Witold Lutoslawski und Béla Bartók seien stellvertretend genannt. Da zudem die Carl Maria von Weber-Gesellschaft einen Sonderpreis für die beste Interpretation eines Weber-Werkes auslobte, waren auch die Ouvertüre und Arien aus der Oper "Der Freischütz" zu dirigieren. Ulrich Kern (Musikhochschule Weimar), einer der drei Finalisten, hob als Besonderheit des Wettbewerbs das breite Spektrum der Werke hervor und lobte auch die tadellose Organisation durch die Dresdner Musikhochschule. Die Konzeption, so der Juryvorsitzende Prof. Ekkehard Klemm, sei besonders auf die Vielseitigkeit eines Dirigenten ausgerichtet gewesen, ein Faktor, der für die weitere Entwicklung der jungen Talente (über-) lebenswichtig ist. Dementsprechend war der Fokus im Finale neben einer komplett dargebotenen klassischen Sinfonie auf die zeitgenössische Musik gerichtet. Mit David Jarquin und Giuliano Sommerhalder (Trompete) standen zwei ebenfalls bei einem Hochschulwettbewerb (2005) ausgezeichnete, überragende Solisten zur Verfügung. Sie erhielten für ihre großartige Interpretation des Trompetenkonzerts von Zimmermann vom Publikum am Ende einen Sonderapplaus. Spannend gestaltete sich das gesamte Konzert, am Ende entschied die Jury, bestehend aus namhaften Dirigenten und Hochschulprofessoren, den 1. und 3. Preis nicht zu vergeben und den 2. Preis zu teilen. Dieser jeweils mit 2000€ dotierte Preis ging an Ulrich Kern, der die 4. Sinfonie von Ludwig van Beethoven mit guter Übersicht und mit einem sehr langsamen Adagio präsentierte, und an Kohske Tsunoda (Musikhochschule "Hanns Eisler" Berlin), der die 104. Sinfonie von Joseph Haydn in überzeugend kompakter Weise darbot. Johannes Witt (Musikhochschule Köln), der jüngste Teilnehmer des Wettbewerbes, erhielt von der Jury einen Förderpreis in Höhe von 1500€. Der Sonderpreis der Carl Maria von Weber-Gesellschaft ging ebenfalls an Ulrich Kern. Zu interpretieren ist das Juryurteil sicherlich damit, dass ein "Senkrechtstarter" unter den Teilnehmern nicht vertreten war. Dies muss aber nicht als schlechtes Zeichen verstanden werden, denn alle Dirigenten befinden sich in ihrer Entwicklung auf einem langen Weg, auf welchem, so Ekkehard Klemm, ein Wettbewerb sicherlich einen Mosaikstein, aber nicht die Hauptsache darstellt. Vielmehr sei den Dirigenten von Morgen möglichst eine umfassende praktische Ausbildung förderlich - in dieser Hinsicht kann sich die Dresdner Hochschule auf die bewährte Partnerschaft mit den sächsischen Orchestern des Umlandes verlassen. Das Orchester der Landesbühnen Sachsen bildete - verstärkt durch Studenten der Abteilung Jazz/Rock/Pop der Musikhochschule in Zimmermanns Trompetenkonzert - hier die aufgeschlossene und dem Willen der jungen Dirigenten aufmerksam folgende Grundlage.

Montag, 9. Oktober 2006

Neunfach spannende Gegenwart

Vier Preisträger beim "Klang-Stadt-Stille"-Kompositionswettbewerb

Zum Stadtjubiläum 2006 initiierte das Dresdner elole-Klaviertrio vor zwei Jahren einen Kompositionswettbewerb, der nun mit einem Triptychon-Konzert mit neun Uraufführungen an drei Konzertorten seinen Abschluss fand. Neun Uraufführungen? Es handelt sich mitnichten um einen Tippfehler, und die Werke waren auch keinesfalls kurze Aphorismen, sondern loteten die Spielmöglichkeiten eines modernen Klaviertrios bis an seine Grenzen aus. Somit, und dies betonte Jurymitglied Steffen Schleiermacher bei der Preisverleihung, gebührt die höchste Auszeichnung eigentlich dem elole-Trio selbst. Während viele Wettbewerbe maximal den ersten Preisträger überhaupt uraufführen, wählte hier eine Vorjury bereits 2005 aus 119 Einsendungen aus 33 Ländern neun Kompositionen für die Finalrunde aus, die am Samstag innerhalb der "Tage der zeitgenössischen Musik" ausgetragen und anonymisiert von der Jury bewertet wurde. Mit welcher Intensität und Hingabe sich Uta-Maria Lempert (Violine), Matthias Lorenz (Cello) und Stefan Eder (Klavier) jedem einzelnen Werk widmeten, erzeugte ein faszinierendes Konzerterlebnis und ließ das über sechs Stunden konzentriert folgende Publikum in großen, dankbaren Applaus ausbrechen. Die Vorjury hatte bereits ganze Arbeit geleistet: die neun vorgestellten Kompositionen, aus denen am Ende vier Preisträger hervorgingen, bestachen durch souverän beherrschtes Handwerk und originelle Handschriften. In ästhetischer Hinsicht waren allerdings Werke mit ausgewiesenem traditionellen Bezug wie auch Genregrenzen überschreitende Stücke etwa des instrumentellen Musiktheaters kaum vertreten. Zumeist zurückhaltend war der Bezug zum Wettbewerbstitel "Klang-Stadt-Stille" zu spüren, wenn man von Hernan Palmieris (Argentinien) "Crossed Three-Phase Set/Trio" absieht, welches sich "elektrisierend" mit dem Aufführungsort, dem Siemens-Hochspannungsprüffeld in Kaditz auseinandersetzte und am Ende auch prompt den Publikumspreis erhielt. In der Dreikönigskirche starteten die Trio-Entdeckungen: Simone Movios (Italien) "Nel tempo della memoria?" gab sich zerbrechlich, die Erkundungen am Rand der Stille waren im nicht störungsfreien Raum problematisch. "La Tache Bleue" von Stefan Johannes Hanke erhielt einen geteilten dritten Preis, dieses Werk überzeugte durch eine packende Gestik und eine ausgeklügelte Dramaturgie. "...und aus den verborgenen Quellen der Stille blüht ein ahnender Klang" von Alexander Morawitz bot zwar durch verstimmte Instrumente eine reizvolle Klangwelt, konnte aber in langatmigen Phrasen nicht völlig zufriedenstellen. Im Siemens-Haus erklangen "Drei kleine Trios" von Sven Ingo Koch, ein Stück über Vereinzelung und Synchronität, es erhielt den zweiten 3. Preis, allerdings konnte ich mit der "Ohrenfälligkeit" (Jury) des Stückes, das für mich nicht in die Tiefe ging, nichts anfangen. Das nachfolgende, mit vielen klanglichen Überraschungen gespickte "Trio" von Konrad Möhwald (damit war auch ein Dresdner Komponist in der Finalrunde vertreten) wirkte da auf mich stärker - letzlich der natürliche Beweis, dass auch bei neuer Musik die Geschmäcker auseinandergehen. Am Ende erklang im Foyer des Festspielhauses Hellerau "Utopia" von Peter Köszeghy (Berlin), gleichsam ein wütendes Negativ über die Illusion "Stille", sodann "Landscape - Out of the mist..." von Kazutomo Yamamoto (Japan), das mit einer gepfiffenen Einlage aufwartete und sich ansonsten in freundlich vortastender Klangwelt aufhielt. Einen zweiten Preis erhielt "Estudi de Proporcions Nr. 5" von Joan Riera Robusté (Spanien), in der Gesamtschau wohl das avancierteste Werk, das die Möglichkeiten der Instrumente voll auslotete und laut Jury eine "feinsinnige Mischung aus Klang und Geräusch" bot. Die Entscheidung der Jury, "da kein Werk überragend besser als ein anderes gewesen sei", keinen ersten Preis zu vergeben, ist zwar zu respektieren, glücklich macht sie jedoch niemanden, denn das Niveau der Kompositionen war hoch und alle neun Kompositionen stellen für mich eine Bereicherung des modernen Repertoires für Klaviertrio dar. Am 22. November wird das elole-Trio in der Dreikönigskirche ein Preisträgerkonzert geben, eine erneute Möglichkeit, sich von dem beeindruckenden Engagement der drei Dresdner Musiker für zeitgenössische Musik zu überzeugen.

Mittwoch, 4. Oktober 2006

Pilgerfahrten

Dresdner Kreuzchor begeistert mit Czernowin-Uraufführung zur Eröffnung der "Tage der zeitgenössischen Musik"

Dass eine kulturelle Veranstaltung später beginnt als angezeigt, weil der Andrang an der Kasse unerwartet stark ist, kommt zuweilen vor. Ungewöhnlich und gleichzeitig erfreulich ist dies, wenn es sich bei der Veranstaltung um neue Musik handelt. Der Intendant des Europäischen Zentrums der Künste in Hellerau, Prof. Udo Zimmermann, begriff diesen Vorgang als positives Zeichen für den neuen Kunst-Ort Hellerau und zeigte sich stolz, die diesjährigen 20. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik mit einem vollbesetzten Festspielhaus eröffnen zu dürfen. Auf dem Programm dieses ersten Konzerts stand ein einziges, abendfüllendes Werk: "Pilgerfahrten" der israelischen Komponistin Chaya Czernowin. Dass das Publikum am Ende noch stark applaudierte, als schon die Protagonisten längst die Bühne verlassen hatten, liegt wohl an der beeindruckenden Gesamtleistung der beteiligten Ensembles. Das Werk ist für Knabenchor, einen Sprecher und Instrumente konzipiert, man darf das Stück zum schwersten rechnen, was je in zeitgenössischer Musikliteratur für Knabenchöre geschrieben wurde. Der Dresdner Kreuzchor gestaltete eine professionelle, in allen Punkten überzeugende Interpretation, die von den starken Leistungen einzelner Solisten im Chor über verschiedenste Klang- und Geräuschaktionen bis hin zu großen Cluster-Ballungen reichte. Czernowin legte dem Werk einen Doppeltext zugrunde, zum einen ein Gedicht von Stefan George, zum anderen eine Geschichte von Tove Jansson, dessen "Mumin"-Kosmos in skandinavischen Ländern durch Bücher und Comics bekannter ist als hierzulande. Dabei hatte die Komposition fast filmische Züge: die Geschichte des Muminvaters,

(Quelle)
der dem Geheimnis der Hatifnatten (eine Art Troll) auf die Spur kommt, entpuppt sich angesichts der Parallelwelt von Stefan Georges Gedicht als Gleichnis eines Suchenden in der Welt. Die kompositorische Beschäftigung mit der Identität des Individuums ist nicht nur eine stets aktuelle, zutiefst zeitgenössische Frage, mit der Entscheidung für einen Knabenchor wurde sie auch konsequent auf die musikalische Ebene übertragen. Die in der Irre kreisenden Boote der Hatifnatten, die Naturgewalten, die Fragen nach Sehnsucht und Geborgenheit wirken im Extrakt von Czernowin menschlich, es wird ein oratorisches Gleichnis daraus, in welchem der Kreuzchor und das hervorragend spielende "ensemble courage" unter der Gesamtleitung von Roderich Kreile zum Schöpfer atemberaubender Stimmungen wird. Dass diesem zeitgenössischen Klanggemälde eine harte Probenarbeit vorausging, merkt der Zuhörer kaum - konzentriert und klangstark sitzt jede Phrase, schlagen Stöcke auf den Boden, wabern Glissandi durch den ganzen Chor. Mit dieser Leistung auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik dürfte der Dresdner Kreuzchor konkurrenzlos sein. In dem für diese "Konzertsituation" mit einer großen Tribüne eingerichteten Festspielhaus klingt die Musik direkt und körperlich, der akustische Eindruck dieses erstmals in solcher Form bespielten Hauses ist hervorragend. Axel Thielmann (Sprecher) erzählte in intensivem Sprachfluss die Rahmenhandlung, die vom Chor und den Instrumenten in bewegende Klangbilder umgesetzt wurde. Die Lichtregie von Claus Guth hielt sich vornehm zurück: die Kraft der Musik wirkte nahezu von selbst. Czernowin weiß außerdem mit musikalischen Mitteln hauszuhalten, prägnante Motivik und deutliche Instrumentalfarben (Posaunen, Schlagwerk) strukturieren das Werk sinnfällig, dabei ist ihre musikalische Sprache immer charaktervoll und fällt nie in illustrative Naivität ab. Am Ende blieb eine zauberhafte, mit lichten wie düsteren Momenten ausgestattete Atmosphäre eines Märchens sowie die Erkenntnis, einem spannenden neuen Werk begegnet zu sein, stark haften.

Montag, 2. Oktober 2006

Zwischen Clownerie und Authentizität

"Hallo Welt!"-Prolog der "Tage der zeitgenössischen Musik" im Bahnhof Neustadt

Wenn die "Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik" in diesem Jahr 20jähriges Jubiläum feiern, dann kann ein Eröffnungsprolog durchaus festliche Züge tragen. Der Prolog des Prologes fand indes schon in Hellerau statt: die Wiedereröffnung des Festspielhauses Anfang September bereitete den Ort für Zukünftiges. Fehlt nur noch die Ankunft der Musiker, insofern ist die Auswahl des Neustädter Bahnhofs für den Prolog sinnfällig. "Hallo Welt!" riefen die Beteiligten daher auch vielstimmig, künstlerisch und auch künstlich. Unter das Reisevolk mischten sich Musikschüler, Sänger und Instrumentalisten, das typische Publikum des Festivals bevölkerte den Bahnhof und erkundete dessen Gänge und Treppen als galt es überall versteckte Klänge aufzuspüren. Diese hatte der Initiator und Komponist Johannes S. Sistermanns fein verteilt, einige waren lautstark und offenkundig, andere wiederum nur als leichte Irritation zu spüren, so etwa eine verstörende Audio-Fläche in der Buchhandlung oder die merkwürdige Eingebung, eine Abfahrtszeitenvitrine würde zum Zuschauer sprechen - kleine, ins Glas eingelassene Mikros machen es möglich. Sistermanns Szenen waren teils örtlich gebunden, teils wanderten sie. Und so vielfältig sich dies darstellte, so kritisierenswert ist es auch. Denn die Gratwanderung zwischen Intention, Inszenierung, Improvisation und den vorgefundenen Realitäten im öffentlichen Raum ist schwierig.

So wirkte das "Bimbo-Town-Orchester" Leipzig, das um 21.00 Uhr einem Zug entstieg und im folgenden im ganzen Bahnhof improvisierten Lärm entfachte, mehr als lächerlich im Kontext. Wenn ein Festival mit zeitgenössischem Anspruch zur Eröffnung ein Clownerieorchester engagiert, das mehr Spaß an der Selbstinszenierung denn an zeitgenössischem Diskurs entwickelt, stimmt dies nachdenklich. Gegenbeispiel: am Ende des Durchganges im Bahnhof hockten zwei Musiker mit E-Gitarren, die sofort ihr - vom Festival unbemerktes und nicht eingeladenes - Publikum fanden. Dies war eine kleine Oase von Authentizität, von wirklichem Be-Spielen des Raumes unter Einbeziehung seiner vorbeieilenden und verweilenden Menschen. Der an die Zuhörer ausgeteilte "Fahrplan" hätte im "Ernstfall" zum Verpassen jeglicher Züge geführt, denn einige Punkte der Veranstaltung gingen gründlich schief, so etwa die komplett unsichtbaren Videoinstallationen. So lag die Stärke der Aufführung auch eher in den leisen, unmerklichen Regionen, große Atmosphäre hatte etwa das "Pas de pied", in welchem drei Dutzend Musikschüler das übliche Tempo eines Bahnhofes in die Zeitlupe verlagerten. Auf diese Weise teilte sich der Bezug zum Ort sofort und direkt mit. Auch die Klangaufgaben im Schließfachraum hatten eigene, etwas abgeschottete Qualität, man musste sich schon mit Kopfhörern, Auge und Ohr diesen Kleinodien widmen. Insgesamt förderte die Performance das unkonventionelle Einlassen auf einen Raum und seine Ereignisse. Manch Reisender wird sich über die Kurzgeschichten anstelle von Zugansagen aus dem Lautsprecher gewundert haben. Andere betrieben eher "business as usual" und ließen sich beim Feierabendbier im Stehen nicht von umherwandelnden Sängern stören. Bei allem organisatorischen Aufwand stellte sich am Ende doch stark die Frage, wer hier wen begrüßte und ob für solche Performances, die mehr das Offene betonen, über diesen Gedanken aber auch gefährlich in die Überflüssigkeit kippen können, nicht längst "der Zug abgefahren ist".

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